Amber Rain
erinnern, wo ich mein Zeug liegenlasse, wenn die Panik zuschlägt. Schon des Öfteren hat sie mich so vor einer Nacht auf der Parkbank bewahrt. Dass sie sich um mich sorgt und extra vor ihrem Bürotag noch einmal vorbei gekommen ist, um sich zu vergewissern, dass ich wohlauf bin und Crispin nicht irgendein Triebtäter ist, ist rü h rend auf eine Weise. Und verdammt schlechtes Timing auf eine andere.
Mittlerweile steht Crispin direkt vor ihr. „Crispin Holloway.“ Er streckt ihr die Hand zu Gruß hin. „Ich bin Ambers Date von gestern Abend. Und Sie sind?“
Charly blinzelt auf seine ausgestreckte Hand, dann zu mir, dann zu seiner nackten Brust. Erst mit ein wenig Verspätung fällt ihr ein, was die Höflichkeit gebietet, und legt ihre Hand in seine. „Ähm. Charlotte Phillipps. Ich bin …“
„Ambers Freundin. Ja.“ Crispin beendet den Satz für sie. Als stünden sie mitten in einem Büro und nicht, zumindest auf se i ner Seite, fast nackt in meinem Schlafzimmer, schütteln sie e i nander die Hand. Das ist … also ehrlich. Ich glaube, das ist die seltsamste Situation in meinem bisherigen Leben.
„Ich schlage vor, wir geben Amber einen Moment Pr i vatsphäre, damit sie sich anziehen kann, und dann können Sie alles mit ihr besprechen, was Ihnen auf dem Herzen liegt.“
„Uh, ähm, ja klar.“ Er lässt ihre Hand los und hält die Tür halb für sie auf. Himmel noch mal, selbst nur in Boxershorts schafft er es, wie das Klischee eines britischen Gentlemans auszusehen. Souverän, ernst, elegant und ein wenig steif. Charly folgt seiner unausgesprochenen Aufforderung und tritt durch die Tür. Halb hinter ihm, dreht sie sich noch einmal zu mir um. Sie reißt ihre Augen auf und formt wortlos das Wort WOW. Ihre theatralisch aufgerissenen Augen bringen mich zum Lächeln. Ich zwinkere ihr zu und gebe ihr ein Daumen hoch. Die Tür fällt hinter den beiden zurück ins Schloss. Ich muss mich anziehen.
Keine drei Minuten später haut mir die Szene, die sich mir in der Wohnküche bietet, gleich das zweite Mal an diesem Mo r gen den Boden unter den Füßen weg. Charly hat sich auf einen der beiden Hocker vor dem Küchentresen gesetzt, während sich Crispin in der Küchenzeile zu Schaffen macht und in me i nen Schränken wühlt. Der Wasserkocher fängt leise an zu blubbern. Die Szene ist so häuslich in ihrer Einfachheit, dass sie mich fast noch mehr schockiert als die Bilder von der Sei l kunst gestern Abend und Crispins Geständnis, dass es ihn a n macht, Frauen leiden zu sehen.
Kann ich das tun? Ich bin nicht scharf auf Schläge, ganz s i cher nicht, aber diese Fotos haben etwas in mir zum Schwi n gen gebracht. Ich denke an die Ballettstunden, die ich geno m men habe, um meinen Körper zu formen und meine Bühne n präsenz zu verbessern. Schmerz und Ästhetik, fällt mir auf, g e hen oft Hand in Hand. Sie sind wie zwei Seiten derselben Münze. Wie der Schatten, den das Licht wirft.
Leise sprechen die beiden miteinander. Ich verstehe nicht, was Charly sagt, aber was auch immer es ist, es bringt Crispin dazu, von den Hängeschränken abzulassen und sich ihr zuz u wenden. Er stützt sich mit den Fäusten auf dem Tresen ab und lehnt sich nach vorn. Selbst aus einigen Schritten Entfernung wirkt die Geste bedrohlich.
„Es gibt keinen Grund zur Freude. Keinen!“ Er schreit nicht, wütet nicht. Aber die Anspannung umgibt ihn wie eine tödl i che Aura.
Charly schrumpft auf ihrem Hocker, und selbst mir zieht sich die Brust zusammen vor plötzlichem Unwohlsein. „Zwischen Mitternacht und acht Uhr morgens hätte ich sie auf zwanzig verschiedene Arten quälen und töten können. Ich hätte sie fe s seln und knebeln und schlagen können und die einzige Siche r heit, auf die sie sich in der Zeit verlassen hätte, hätte sie im Stich gelassen. Sie hat sich auf Sie verlassen. Ein Sicherheit s netz hat keinen Sinn, wenn seine Fäden nicht ha l ten.“ Charlys Augen sind bei Crispins Anklage groß geworden. Ich räuspere mich, um meiner Freundin zu Hilfe zu eilen. Tief drinnen rü h ren seine Worte etwas in mir auf. Die Drohung, die er ausg e sprochen hat, zusammen mit der Sorge.
Er dreht sein Gesicht zu mir, und sofort ändert sich seine Miene. Alle Härte verschwindet, in seinen Augen tanzen die silberfarbenen Sprenkel. In drei, vier langen Schritten ist er bei mir, streicht mein immer noch loses Haar von meinem Hals und küsst mich auf die Schläfe. „Guten Morgen, meine Sch ö ne. Der Tee ist fast fertig. Ich gehe mich
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