Amber Rain
wende mich ab, beginne, Seile aufzurollen, ignoriere, dass Jessica noch immer im Ha r nisch steckt, der per Seilzug mit einem der Ringe unter dem Querbalken verbunden ist. Jessicas Bewegungsfreiheit ist ei n geschränkt, und ich kümmere mich nicht um sie. Es ist eine Sünde. Sie stößt leise, erschrockene Laute aus, wie ein Kät z chen, das nach der Mutter weint. Ich ignoriere sie dennoch.
„Sir, darf ich sprechen?“ Michaela hält den Kopf gesenkt.
„Ja“, presse ich heraus.
„Es sah gut aus, was Sie gemacht haben“, sagt sie. „Die … die Figuren, es ist … Sir …“ Ihr fehlen die Worte, um das au s zudrücken, was sie mir sagen will, weil sie einfach verunsichert ist. Sie will mir sagen, dass ich von meiner Kreativität nichts eingebüßt habe, dass die Show mit Jessica ein Erfolg werden würde. Und ich weiß, dass sie Recht hat. Jessica ist ein großa r tiges Model und eine perfekte Sub. Alles, was ich tun muss, ist, mich zusammenzureißen. Die Kontrolle über mich wiederfi n den.
Und ich weiß nicht, ob ich das kann.
„Steh auf“, herrsche ich sie an, und sie kommt eilig auf die Füße.
„Du kannst George sagen, dass ich die Show machen werde. Okay? Darum geht es doch, ja? Ich werde die Show mit Jessica machen. Aber sag ihm auch gleich, dass es das letzte Mal sein wird, dass ich mit seinem Club in Verbindung gebracht werde. Er hat die Wahl.“ George wird es mindestens ein Jahr lang empfindlich wehtun, wenn mein Beitrag nicht in seine Kassen fließt. Der Club hat nicht wirklich viele Mitglieder, und wann immer jemand abspringt, hinterlässt das ein Loch in Georges Brieftasche. Und er hat in diesem Monat bereits ein Mitglied eingebüßt, Anthony.
Ich werde in dieser Nacht verdammt schlecht schlafen, weil ich kein bisschen von der Aggression in meinem Inneren lo s geworden bin. Die Frustration über mich selbst hat es eher schlimmer gemacht als besser. Ich werde jede Nacht bis zu di e ser verfluchten Veranstaltung schlecht schlafen, weil ich nicht dafür garantieren kann, was dort auf der Bühne passieren wird, und weil ich mich so sehr danach sehne, meine Finger auf die Haut einer Frau zu legen, auf der sie nie wieder liegen werden.
Es gibt nur eines, das mich heute bei Verstand hält. Ich bin gestern in den frühen Morgenstunden in der kleinen italien i schen Espressobar in der Shaftesbury Avenue gewesen. Es war ein Tipp von Charly Phillipps, mit der ich in letzter Zeit täglich telefoniere. Ich habe mich hinter einer verdammten Säule in einer dunklen Nische verborgen wie ein Spanner. Doch ich habe Amber gesehen, in einem hoffnungslos zusammengest ü ckelten Kostüm aus ausrangierten Fundusbeständen, wie sie die Julia gab und aus dem Gedächtnis ganze Absätze rezitierte, ohne ins Stocken zu geraten. Es hat mich so sehr berührt, dass ich das Café fluchtartig verließ und dabei sogar vergessen habe, meine Zeche zu bezahlen. Hoffentlich haben sie das nicht der Kellnerin abgezogen, die gestern die Frühschicht hatte.
Während mein Leben den Bach runtergeht, hält mich die Vorstellung, dass Amber Rain die Welt erobern kann, bei Ve r stand. Und sonst gar nichts. Dieser Verstand, der bald nichts mehr wert sein wird, weil die Vorstellung, dass ich sie für i m mer verloren habe, während die Welt sie gewinnt, mir den Ve r stand langsam aber sicher zu rauben beginnt.
Amber
Charly ist im Büro. Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht mehr länger bei mir wohnen muss, um Händchen zu halten. Nur noch bis über das Wochenende, hat sie gemeint. Das bedeutet, dass ich in zwei Tagen meine Wohnung wieder für mich habe. Es ist ganz still. Ich habe mich auf der Couch zusammengerollt und versuche zu lesen. Als ich bemerke, dass ich dieselbe Seite nun schon zum achten Mal lese und immer noch nicht wirklich aufgenommen habe, was darauf steht, gebe ich auf. Ich ziehe die Decke über mich und versinke in der Schwärze. Dort, in meinem Kokon aus dunklen Gedanken, höre ich meinen eig e nen Atem. Gleichmäßig. Ein und Aus. Immer wieder. Ich la u sche und hoffe, Worte zu hören. Die richtigen Worte. Die, die ich Crispin sagen kann. Mit denen ich ihn um Verzeihung bi t ten kann. Oder auch nur um eine zweite Chance. Sie kommen nicht zu mir. Nur mein Atem. Ein und aus. Meine Kehle brennt, meine Augen sind trocken von zu vielen Tränen.
Das Telefon klingelt, und ich überlege, ob ich den Anrufer auf den Anrufbeantworter auflaufen lassen soll. Aber dann kommt mir der Gedanke, dass es Charly sein
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