Ambient 02 - Heidern
und sah hinüber. Aaahhh! Anne, da war eine Riesenratte, so eine große habe ich noch nie gesehen. Die hätte eine Katze verschlucken können und hatte diesen langen, nackten Rattenschwanz. Ich schrie wie am Spieß und Jude fuhr empor. Die Ratte stieß auf der Flucht eine Schachtel Tampons um. Da tat Jude etwas, das ich bis jetzt nicht fassen kann! Sie griff nach einem dünnen Seil, das neben der Matratze parat lag und am vorderen Ende zu einer Schlinge geformt war. Die warf sie der Ratte wie ein Lasso um den Hals! Dann zog sie schnell und fest zu und hatte das Biest. Samt Lasso stand Jude auf und zog die Ratte hoch. Ich konnte kaum hinsehen, so scheußlich war das. »Sir Ratte, Urlaub am falschn Strand gemacht«, feixte Jude.
»Paß auf«, mahnte Iz, die auf dem Bett stand. Die Ratte baumelte am Seil, aber versuchte sich so zu drehen, daß sie Jude beißen konnte, obwohl sie am Ersticken war. Sie zischte und schnappte mit dem Kiefer. »Ratten und Menschen, alle gleich«, philosophierte Jude. »Haben wollen, was man kriegen kann.« Als die Ratte immer weiter nach ihr schnappen wollte, langte sie in die Tischschublade und nahm ein Feuerzeug heraus. Sie entzündete es und drehte die Flamme hoch, dann hielt sie die Flamme an den Bauch der Ratte. »Was man dir auch antut, s ist bloß, damit du wegbleibst.« Die Ratte konnte sich losreißen und fiel zu Boden. Aber bevor sie noch entwischen konnte, hatte Jude sie schon wieder am Schwanz gepackt und wirbelte sie herum, bis sie schließlich losließ und die Ratte aus dem Fenster segelte. »Aber was solls? Am Schluß kriegen sie dich dran!«
In der Zeitung habe ich gelesen oder im Unterricht gehört, daß eine Maus oder Ratte aus großer Höhe herabfallen kann, ohne sich zu verletzen, weil sie so klein sind. Ein Mensch dagegen würde getötet oder wenigstens zermatscht. Auch wenn ich Ratten hasse, hoffe ich, daß sie davongekommen ist oder wenigstens gleich starb. Nach einer Weile zog sich Iz wieder an und wir kletterten nach unten. Auf dem Broadway sahen wir Soldaten, die südlich ihrer Barrikaden patrouillierten. Sie taten nichts, sahen aber ganz so aus, als könnte sich das jeden Moment ändern. Die häßlichsten von ihnen riefen uns Anzüglichkeiten zu, aber wir beachteten sie nicht. Schließlich kamen wir am U-Bahn-Hochbahnhof an der 125. an. »Wir gehn bunkern. Bis später«, sagte Jude und eilte die Stufen empor.
Ich ging heim. Mama lag auf ihrem Bett. Sie hat wohl an einem Manuskript gearbeitet, ist dann müde geworden und hat aufgehört. Als ich sie so liegen sah, stand ich eine Weile neben ihr und hörte ihrem Atem zu, um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war mit ihr. Boob hatte sich ebenfalls hingelegt. »Was ist los mit dir, Boob?« Sie lutschte am Daumen, klammerte sich an ›Foeti‹ und sah aus wie ein kleines Baby, bloß viel zu groß. Ich ging in die Küche und hab dir geschrieben, womit ich jetzt für heute fertig bin.
20. April
In der Schule nichts Erzählenswertes. Froh bin ich, wenn dieses Schuljahr um und der Sommer da ist. Pappi war natürlich schon in der Arbeit, als wir heimkamen.
21. April
Ich mache mir richtig Sorgen wegen Boob, Anne. Die ist total vom Sender. Wenn wir zur Schule gehen, sagt sie nichts. Sie sagt nichts auf dem Heimweg. Und zu Hause redet sie auch kaum. Dabei hat sie mich früher zu Tode gequatscht. Jetzt wäre ich froh, wenn sie den Mund aufbrächte. Richtig Angst kann man kriegen, weil sie die Nuschel nicht aufmacht. Ich habe Mama um Rat gefragt, aber der fiel auch nichts ein: »Ach Engelchen, dein Schwesterherz ist einfach überfordert. Sie reagiert auf Veränderungen dermaßen sensibel. Ein wahres Barometer.« Wohl wahr, aber trotzdem furchterregend. Als Boob heute mit uns auf dem Sofa saß und fernsah, fragte ich sie andauernd, ob sie ihre Zunge verschluckt hat und schnitt Grimassen, um sie aus der Reserve zu locken, aber nichts: es war, als ob sie gar nicht da wäre. Manchmal scheint es, Anne, als würde ich unsichtbar.
22. April
Manchmal kommt es mir so vor, als forderte ich die Ereignisse heraus, Anne: Da bin ich heute früh stinkewütend aufgewacht wegen all meiner sogenannten Freundinnen an der Schule und wie sie sich benehmen. Eine Stunde bin ich vor dem Aufstehen wach im Bett gelegen und hab vor mich hin geköchelt und Boob beim Schnarchen zugehört. Einmal habe ich ihr einen Klaps gegeben, damit sie sich umdreht, tat sie aber nicht, also habe ich sie gleich noch mal geschlagen. Da wimmerte sie im
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