Ambient 02 - Heidern
wenigstens einmal an?«
»Wahrscheinlich haben sie Angst vor unserem Viertel.« Das war nicht nur geschwindelt, das war gelogen, aber ich will ihr einfach nicht erklären, was wirklich los ist. »Das sind aber dumme Gänslein. Unser Viertel ist sicher, wenn es sonst schon nichts ist.« Eigentlich wundert es mich, daß Katherines Vater meine Mama und meinen Pappi nicht angerufen hat, um seine Lügen loszuwerden. Die hätten es ihm ganz schön gegeben, wenn er das probiert hätte. Wobei es mir so lieber ist, weil ich nicht mit ihnen darüber sprechen möchte. Und die von der Schule sind schlimmer als bloß dumme Gänslein, aber jetzt kann ich sie einfach ignorieren, weil ich eine neue wunderbare Freundin neben dir, Anne, gefunden habe.
Heute war Pappi schon vor neun zu Hause. Gestern ist es so spät geworden, weil wieder einmal eine der Kassen nicht genug Geld enthielt und er bei dem Kassierer bleiben mußte, bis alle Ungereimtheiten beseitigt waren. Langsam gewöhnt er sich ans Arbeitsleben, aber zum Schreiben kommt er überhaupt nicht mehr. Boob war wieder mucksmäuschenstill und sah so traurig drein. Ich versuchte, mit ihr zu reden, aber heute war es natürlich wieder nichts damit. Sie lag bloß da, umklammerte ›Foeti‹ und lutschte an ihrem Daumen. Etwas muß ihr zugestoßen sein, aber ich weiß nicht, was.
Wie auch immer, Anne, ich kann es kaum erwarten, bis es Freitag wird. Das Wochenende ist vorbei. Es war ganz schön wild, aber es wird schon werden. Daß morgen wieder Schule ist, mag ich gar nicht. Eigentlich traurig, wo ich doch die Schule einst so geliebt habe. Aber vielleicht wird es sogar dort nicht so schlimm werden.
29. April
Weil ich heute keine Hausaufgaben mehr machen muß, kann ich dir ein wenig Zeit widmen, Anne. Schule war so, wie du es dir denken kannst. Ein paar Mädchen, mit denen ich früher kaum geredet habe, saßen beim Mittagessen neben mir und plauderten, ohne viel zu sagen. Solche Langweiler. Ich meine, sie gehen schon, aber sie sind auch hirntot.
Als Boob und ich mit dem Bus unterwegs nach Hause waren, sah ich Weez den Broadway hinunterlaufen, Nähe Columbia. Sie hatte ihr Haar mit einem Stirnband zusammengebunden und trug eine Sonnenbrille, aber ich habe sie trotzdem gleich erkannt. Mich hat sie natürlich nicht gesehen, gottseidank.
Auf Freitag freue ich mich immer noch riesig, auch wenn ein Wiedersehen mit Weezie die Freude trüben wird.
2. Mai
Stell dir vor, Anne, gestern ist schon wieder der Präsident getötet worden. Scheint aber ein Unfall gewesen zu sein. Sein Flugzeug ist während des Landeanflugs auf Newark über Queens mit einem Helikopter zusammengestoßen. Beide sind abgestürzt. Die vom Fernsehen wissen noch nicht genau, ob es so eine Terroristensache gewesen ist oder nicht, aber sie bleiben dran. Vor dem Zusammenstoß sollte der Hubschrauber noch abgeschossen werden, aber sie verfehlten ihn. Die Soldaten auf Long Island haben die Leichen noch nicht gefunden, sind aber optimistisch. Die Beerdigungsfeierlichkeiten sind bereits morgen, also fällt kein Schultag aus, was schade ist. Der neue Präsident soll laut Mama der schlimmste von allen sein, weil man gar nichts über ihn weiß.
Abgesehen davon ist es ja schon eine Weile her, Anne, daß ich dir geschrieben habe. Hier also mein Wochenendaufholprogramm, das noch üppiger ausfallen wird als sonst. Gestern gleich nach der Schule habe ich mein Zeug fürs Übernachten gepackt und ein paar Salami-Sandwiches verdrückt. Endlich Freitag! Mit Iz wollte ich mich um sechs an der Ecke treffen. Um halb fünf war ich schon fertig. Boob badete gerade, während Mama in der Küche Manuskripte korrigierte und im Ofen das Hühnchen brutzelte, das es zum Abendessen geben sollte. Gestern war auch Pappis freier Tag. Er saß im vorderen Zimmer und blätterte in einem Bildband über Europa. Als er mich sah, fragte er, ob ich mit ihm all die Orte anschauen möchte, die wir gemeinsam besucht hatten. »Klar.« Ich setzte mich zu ihm. Er sah sich gerade eine Aufnahme von Berlin an. Ob ich mich an Berlin noch erinnern könne? »Logisch, ich bin ja nicht so vergeßlich wie andere Leute.« Er lächelte.
Es war eine Farbaufnahme des Kurfürstendamms bei Nacht mit all den roten Rücklichtern und den weißen Scheinwerferbändern. Schönes Bild, Anne, ich erinnere mich genau, obwohl ich damals erst acht war. Das Brandenburger Tor war hell angeleuchtet, ebenso der Reichstag und die alte, kaputte Kirche. Berlin bei Nacht war um vieles
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