Ambient 02 - Heidern
überforderte.
»Wozu?«
»Um was Herrliches zu sehn.« Er drückte meine Hand in seiner Faust zusammen, und ich staunte darüber, wie willig ich in jede neue Falle tappte. Da verschwanden auf einmal, wie bei einem Stromausfall, samt und sonders die Lichter der Stadt, es schien, als hätte plötzlich der Himmel Feuer gefangen und sie überstrahlt. Überm oberen New Yorker Hafen störten keine Wolkenkratzer oder sonstigen Dächer die Aussicht ins Rund des Firmaments; ungehindert blickte ich von unten in seine Millionen Leuchtquellen, schaute in ihr dichtes Strudeln wie in einen Tornado, ein Mandala, eine DNS-Spirale. Inmitten dieses Hurrikans der Engel sah ich ein blendend-weißes Licht. Ich hörte das Säuseln der Engelschöre, empfand ihre Klänge wie das Rauschen des Meers in einer Muschel. In Wahrnehmung ihrer Regungen starrte ich so lange in die schmerzlich grelle Helligkeit, bis ich Sorge hatte, mir müßten die Augäpfel zerfließen, aber ich vermochte den Blick nicht abzuwenden.
»Man nimmt an, wir sehn, was wir erwarten«, sagte Macaffrey. »Ich bin sicher, in Wahrheit ist's völlig anders. Manchmal hört man auch Musik. Sie mögen wohl Wagner.«
Ich befreite mich von seiner Hand; die Vision verflog so Knall und Fall, wie sie mich ereilt hatte. Unterm New Yorker Himmel erschien wieder, so bar von Engeln wie von Sauerstoff oder Sternen, das Helldunkel der Straßen. Andere Passanten, die nahebei ihre abendlichen Wege ablatschten, hatten anscheinend nicht mehr als den Bürgersteig vor ihren Füßen gesehen; New Yorker schauten nur nach oben, wenn sie befürchten mußten, daß ihnen etwas auf den Kopf fiel. Sobald ich Macaffrey ansah, hatte ich das Gefühl, als wäre mir in all meiner Furcht noch nie so sicher zumute gewesen. »Nenn mich Lester, Joanna«, sagte er. »Ich halt nix von Formalitäten.«
V IE R
Bringst du mich nach Haus?« fragte ich, ahnte schon, daß er einwilligte. Eine Million Worte durchstob unser Schweigen, während wir zwischen den Broadway-Barrikaden zu den Wohnvierteln stapften. Die Krux unserer Epoche lag darin, daß beinharte Lügen als brandneue, großartige Wahrheiten durchgingen, existierte nur ein ausreichend starkes Bedürfnis, an etwas zu glauben. Bei dem Bemühen, Plüschtieren durch Streicheln Leben einzuhauchen, mochte ein Kind sie bis zur Kahlheit abwetzen. Aber was geschah, falls es schon am Anfang an ein schlafendes Tier geriet? In ihrer Faktizität erwies Wirklichkeit sich nie als so flexibel wie Theorie. Engel! schalt ich mich; ich konnte überhaupt nichts gesehen haben: Ein Ineinanderschmelzen von Himmelslicht und Selbstbetrug, glaubte ich, hatte mich irregeführt.
Doch schloß ich die Augen, sah ich nach wie vor Engel. Warum mußte gerade ich für eine Offenbarung auserwählt sein? Für mich ergab das so wenig Sinn wie die Geschichten über Fliegende Untertassen, die in einsamen Präriegegenden Nebraskas landeten und deren Insassen auf dem Spleen bestanden, ausschließlich Landpomeranzen in die zwischen den Sternen gehüteten Geheimnisse einzuweihen. Daß mir das Zusammensein mit Lester behagte, schrieb ich keineswegs den Himmlischen Heerscharen zu.
»Der Kumpel, mit dem du in der Schule angetanzt bist, war er mal dein Liebhaber?« erkundigte sich Lester. Aus dem entfernten Brooklyn scholl – eine allabendliche Kanonade – der Lärm von Zeitungsbündeln herüber, die man vor den Kiosken auf die Bordsteine schmiß. Zweifellos stand mein Gemüt weit genug offen, um Lester eine mühelose Einsicht zu gestatten.
»Das kannst du doch unmöglich gewußt haben …«
»Man sah's an der Haltung, wie du neben ihm gestanden hast«, sagte er. »Dem Vorschieben des Unterleibs. Details verraten alles. Gehn wir da lang.«
Durch die Rector Street wanderten wir westwärts; rechts unseres Wegs erstreckte sich der Friedhof, der die Dreifaltigkeitskirche umgab, die Grabsteine spiegelten im hellen Glanz der Flutlichtlampen; Lichtbogen schillerten zwischen den Bäumen, als wären sie bei der Ernte übersehen gewordene Früchte. Die Stützmauer des Friedhofs ragte zusehends höher empor, wo die Straße zum von da aus unsichtbaren Hudson hinunterführte. Wir wandten uns erneut nach Norden und unterquerten eine schmale, schmiedeeiserne Brücke, die die Straße vom Friedhofsgelände zu einem Bürobau überspannte, als hätten die Totengräber in Vorausschau des Jüngsten Gerichts für die Toten eine Abkürzung zwischen Grab und Fürsorgeamt zu schaffen beabsichtigt.
»Du hast kürzlich
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