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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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Sicherheit. Irgendwie schüchterte ich den Burschen ein; zwar verhielt er sich ohnehin nie redselig, aber es kam mir so vor, als wäre er in meiner Gegenwart besonders wortkarg. Jake hatte das Gemüt eines verlorenen Sohns; seine gottgegebenen Talente beeinflußten jede seiner Handlungen und jedes seiner Worte dermaßen, daß sie jeden Möchtegern-Freund entmutigten. Ich bemerkte, daß er statt eines Totschlägers, wie man ihn bei jemandem seines Gepräges eher vermuten sollte, in seine Tasche einen Band Shakespeare stopfte.
    »Vermittelt Gus Ihnen Literaturkenntnisse?« fragte ich, während wir im Lift hinabfuhren.
    »Voll die Einpfeife«, bestätigte er. »Den Monat ham wir schon zwomal Buchkritik gebüffelt.«
    »Bei Shakespeare kommen so viele wundervolle Charaktere vor«, sagte ich. Jakes Nähe weckte in mir ein außerordentlich tiefgehendes Gefühl, und ich konnte mir vorstellen, daß es auf dem Mutterinstinkt beruhte. »Gefällt irgendeiner Ihnen besonders gut?«
    »Ariel.«
    Am Bordstein wartete ein Wagen, um mich nach Hause zu bringen. Bevor wir ihn erreichten, hörte ich jemanden meinen Namen rufen: Macaffreys Stimme ließ sich unmöglich vergessen. Er kam, indem er den Vorplatz unseres Firmengebäudes überquerte, direkt auf uns zu; Jake erkannte ihn und erlaubte ihm, sich zu nähern.
    »Sie haben doch nicht den ganzen Tag hier draußen gestanden?« fragte ich.
    »Ich komm von der Schule zurück.« Im Schein der Straßenbeleuchtung schienen die Falten von hundert Jahren sein Gesicht zu zerfurchen. »Möchten Sie 'n Spaziergang mit mir machen?«
    Fortgerannt wäre ich am liebsten. »Ja«, antwortete ich, hatte den Eindruck, als gäbe an meiner Stelle eine Fremde die Zustimmung. »Jake, ich nehme heute einen anderen Heimweg. Wir sehen uns am Montag.«
    Jake blieb, wo er stand, unverändert vorsichtig wie eine Katze. Zum erstenmal bemerkte ich die knochenweiße Hülle um seinen Finger und das Skalpell, das – ohne einen medizinischen Zweck zu haben – an der Fingerspitze herausragte.
    »Sagen Sie dem Chauffeur, er kann abdüsen, Jake«, bat ich ihn. »Das geht voll in Ordnung.«
    »Se verändern sich«, entgegnete Jake, seine Stimme, sonst so unstet wie die Meeresoberfläche – manchmal sprach er im Sopran, bisweilen im Tenor –, klang ungewohnt klar und tief. Jake war erst kürzlich vierzehn geworden. »Se wissen, wer's Licht anknipst.«
    »Keine Sorge«, sagte ich in fröhlicher Jovialität. »Schönes Wochenende.«
    Während Macaffrey und ich uns entfernten, herrschte zunächst ein Augenblick der Stille, dann rief Jake mir plötzlich mit hellerer Stimme nach, vielleicht nur um sich zu vergewissern, daß ich ihn noch hörte. »Joanna …«
    »Ja, Jake?« Er muß sich wohl gefreut haben; ohne weitere Reaktion kehrte er ins Haus zurück, um ebenfalls Feierabend zu machen.
    Ich schlenderte mit Macaffrey den Rinnstein der Broad Street entlang. Kleine Häuser füllten wie Lückenbüßer die Klüfte zwischen den Wolkenkratzern, hatten Ähnlichkeit mit von den Seiten riesiger Muttergestein-Felsklötze abgesprungenen Steinsplittern. Auf ihren niedrigen Dächern standen zwei Jahre alte oder ältere Plakatwände. Eine davon pries den Gewinner der kürzlich stattgefundenen Präsidentenwahl; ich stellte jedesmal, wenn ich vorüberkam, am Gesicht des Kandidaten ein fortgeschritteneres Verblassen fest. Vor der Wahl hatte er als Vizepräsident fungiert; nicht länger als anderthalb Monate nach seiner Amtseinsetzung, am vorletzten Märztag, hatten Schüsse ihn niedergestreckt. Sein Vize fand fünf Wochen nach der Vereidigung zum Präsidenten den Tod, als seine Präsidentenmaschine über dem alten Shea-Stadion mit einem Rundflug-Hubschrauber kollidierte. Sein Nachfolger, der eingeblödete alte Charlie, versuchte noch am Tag des Unglücks zu entwischen; nachdem Abfangjäger seinen Flughobel zur Landung gezwungen hatten, sorgte allerdings die Menschenmenge, die am Boden nach ihm schrie, weil sie endlich einmal einen Grund zum Wählen sah, wegen seiner Memmenhaftigkeit, indem sie auf ihm mit den Füßen abstimmte, für seine vollständige Plättung. Sein Nachfolger wiederum und Thatcher trafen eine Vereinbarung, die den Drydens für drei Monate in den Kram paßte; Gus regelte in Seattle das Erforderliche. Der jetzige Präsident, der fünfte Amtsinhaber in diesem Jahr, wußte seine Brötchengeber zu schätzen.
    »Dem Namen nach würd man nie drauf kommen, was Ihre Firma betreibt«, sagte Macaffrey. »Was tun Sie für

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