Ambient 02 - Heidern
wenn du willst?«
»Wie sonst?« fragte er und lachte. Eine Bö, ein Atemstoß eines Engels, blies ihm das Haar in die Stirn, verjüngte für einen Moment seine Erscheinung um zwanzig Jahre. »Ich hab mit dem, was über mich kommt, zu leben gelernt.«
»Kannst du in die Zukunft schauen?«
»Du nicht?« fragte er, breitete vor uns die Arme weit aus. Das altgewohnte Jaulen einer Polizeisirene, die sich näherte, klang wie das Plärren eines Säuglings. Wir drehten uns der Fahrbahn zu und hoben die Arme über den Kopf. Die Limousine des Bürgermeisters, eskortiert von Motorradpolizisten, rollte stadtauswärts, vorn und hinten geschützt durch Soldaten, die auf Pritschenwagen fuhren, die Gewehre wiesen wie Nadeln in einem Nadelkissen nach allen Seiten.
»Durch meine Wohngegend fährt er nie«, sagte Lester. »Mich juckt's jedesmal, wenn er vorbeisaust, einfach weiterzugehen, als wär ich schwerhörig …«
»Dann würdest du erschossen«, warnte ich ihn. »Sie feuern nämlich immer.«
»Bedenkt man, wie dein Mr. Dryden die Unschuldigen behandelt, fragt man sich, wie er wohl mit Schuldigen umspringt?«
»Das kommt darauf an, wer wessen schuldig ist«, sagte ich. »Er macht sich nie die Hände schmutzig.« Mir fiel meine Frage wieder ein. »Du hast nicht bejaht, ob du in die Zukunft sehen kannst. Bist du dazu fähig?«
»In die Zukunft mancher Menschen seh ich«, antwortete er.
»Welcher?«
»In meine Zukunft«, sagte er. »Und deine.«
Sobald wir die Ecke Duane Street/South Street erreichten, blieben wir an der Ampel stehen; jemand anderes tat das gleiche. Nichts hatte Thatcher mir so nachhaltig eingeimpft wie die Bereitschaft, selbst in der Furcht Trost zu finden. Ich sah niemanden, aber ich wußte, uns belauerte jemand.
»Wir werden beschattet«, stellte ich fest.
»Nee, ach was …«
»Hör mal hin.«
In ihren alten Ziegelbauten gingen längs der Duane Street noch immer Lebensmittelgroßhändler ihrem Gewerbe nach; Lastfahrzeuge standen im Leerlauf unter schrägen Blechmarkisen, während Prolteams sie mit Milch und Käse beluden. Diese Geräuschkulisse hatte eine für unseren Verfolger vorteilhafte Lautstärke.
»Ich hör nix«, sagte Lester.
»Laß uns abhauen.« Zwischen den Schenkeln der Duane Street lag das dunkle Dreieck eines Pärkchens. In der kleinen Grünanlage schnarchten Dutzende von Berbern in den Decken, auf denen sie vormittags aus Zahnarztpraxen geklaute Zeitschriften verhökerten. Bernard hatte zu mir gesagt, heutzutage wäre es angenehmer, statt hier in Kalkutta zu leben; in Kalkutta sei es nie kalt. Nachdem ich mich ans Tuckern des Lasterherzschlags gewöhnt hatte, hörte ich wieder, was ich überhaupt nicht hören mochte: Schritte, die sich in schnellerem Takt als unsere Füße bewegten. Indem ich wünschte, ich trüge flachere Absätze, wandte ich mich im Laufschritt nach links, Lester blieb dicht hinter mir. Ich hörte ein Krachen wie von einem Knallfrosch; weil ich es hörte, wußte ich, diesmal hatte man mich noch nicht erschossen.
»Gott«, stieß ich hervor. »Lauf!« Überstürzt flohen wir in eine Nebenstraße an der Nordseite des Platzes, unsere Schuhe schlitterten über die abgerundeten Quader der Pflasterung. Aufgrund der Enge der Straße schienen die niedrigen Häuser die dreifache ihrer tatsächlichen Höhe zu haben; nur eine einzige Laterne erhellte funzelhaft die Düsternis zweier Häuserblocks. In einer Höhe von mehreren Stockwerken verband eine geschlossene Brücke nahezu venezianischen Stils die Häuser im unmittelbaren Umkreis des Lichts. Wir hätten ohne weiteres ins letzte Jahrhundert versetzt worden sein können, ohne es zu merken, als so unwiderruflich alt entpuppte sich die Umgebung. Wo die Dunkelheit sich am schwärzesten ballte, drückten wir uns an eine Mauer.
»Wieso laufen wir weg?« wollte Leser wissen, während wir abwarteten.
»Sie schießen.«
»Wer?«
Ich schüttelte den Kopf; eine ganze Fülle von Möglichkeiten konnte ich mir vorstellen. Die Mörder Jensens, die ihre Tätigkeit fortsetzten; Jake, der es sich anders überlegt und gehandelt hatte; Soldaten bei Zielübungen; ein Heckenschütze, der sich vor seinem großen Auftritt einschoß; eine Buchhalterin, die ihr Mann endgültig ankotzte; oder vielleicht ballerte irgendwer drauflos, nur weil er es gern knallen hörte.
»Ist außer uns noch jemand auf dich scharf?« fragte ich.
»Nicht mehr«, lautete seine Auskunft. »Glaubst du, er steckt dahinter?«
»Das erführen wir gar nicht. Wäre
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