Ambient 02 - Heidern
hatten eine eigene Fahrspur und kamen deshalb zügiger voran. Einem Gerücht zufolge sollten die Soldaten zwecks Kosteneinsparung die zur Blutabnahme erforderlichen Spritzen nacheinander bei mehreren Verdächtigen verwenden.
»Gehn wir nach Norden?« fragte Lester. Keine Taxis fuhren uns in die Seiten, während wir über die Canal Street hetzten; keine Panzer walzten uns auf ihrer Mittelspur platt. Einer von mehreren Lastzügen mit Anhänger warf uns, während er vorüberschaukelte, lediglich mit seinem Fahrtwind fast um. Der Anhänger zeigte das Kraft-Firmensymbol; ihm wiederum hatte man den Dryco-Strahlemann aufgemalt.
»Du hast mit dem, was du sagtest, recht gehabt. Ich bin eher einem Fremden als einem Freund zu trauen bereit.«
»Aus den richtigen Gründen?« fragte Lester.
»Freunde erwarten immer, daß man sich auf eine bestimmte Weise verhält. Benimmt man sich irgendwann einmal anders, sind sie enttäuscht, und es kann sein, sie mögen einen nicht mehr. Manchmal glaube ich, Menschen halten sich nur Freunde, um sicherzugehen, daß sie jederzeit gekränkt werden können.«
»Gegenüber Fremden verhältst du dich also anders«, sagte Lester.
»Ich bin lockerer«, erklärte ich. »Thatcher hat's gern, wenn jeder ständig unter Hochspannung steht. Und die Personen, die ich am längsten kannte, die mir am nahsten standen, waren gleichzeitig die größten Lügner, die ich gekannt habe, darum …«
»Und wieviel davon, glaubst du, hat sich auf dich übertragen?«
An der nächsten Ecke hatte man vor Jahren ein riesiges Bürogebäude abgerissen, um Platz für Luxuswohnungen zu schaffen, die man dann doch nicht baute. An deren Stelle sah man jetzt auf dem freien Grundstück Hunderte kleinerer Behausungen verteilt: Kisten und Kästen, windschiefe Zelte, Wellblechhütten, Pappkartonbuden. Am Mittelpunkt der Ansiedlung stand ein bescheidenes Holzhäuschen, wahrscheinlich das Heim des Thatchers dieser Gemeinschaft.
»Leider genug«, gab ich zu. »Früher hatte ich viel mehr Freunde.«
»Was ist aus ihnen geworden?«
»Zwischen Frühstück und Mittagessen waren sie plötzlich pleite«, sagte ich. »Verloren die Arbeit. Ihre Wohnungen. Ich würde sie nicht erkennen, sähe ich sie heute wieder.«
»Doch«, behauptete Lester.
»Daß es mir nicht so ergangen ist, war ein reiner Glücksfall«, erzählte ich. »Bernard hatte kurz vor mir zur Dryco gewechselt. Ich bin auch hin. Zur rechten Zeit bin ich am rechten Ort gewesen. Irgend etwas anderes konnte ich praktisch gar nicht machen.«
»Ist schon gut …«
»So was wird mir nicht mehr vorkommen«, beteuerte ich. »Alles dreht sich um sein Benehmen. Mein Leben hängt davon ab, wie sehr er ausklinkt. Das gefällt mir überhaupt nicht.«
In den hiesigen Häuserblocks hatten noch Relikte einer herkömmlicheren Nachbarschaft überdauert: Ich sah einen Imbiß, ein Restaurant, eine Reihe teils vermieteter Ladengeschäfte. Im Fenster des Restaurants informierte ein in koreanisch und englisch beschriftetes Schild mit dem Hinweis: Japsen unerwünscht; es wirkte dermaßen alt, als bezöge es sich noch auf die mit den Achsenmächten verbündet gewesenen Japaner des kaiserlichen Japans. Die Eingänge der Geschäfte standen offen, um etwas kühle Abendluft einzulassen. Auf dem Bürgersteig wälzten sich zwei Mädchen, zankten und beschimpften einander, eines umklammerte das andere mit wie Besen dünnen Beinen; dem Äußeren nach mochten sie in Jakes Alter oder jünger sein. Eine Bande Lümmel johlte dazu; mehrere ältere Männer schauten zu, die Hände in den Taschen. Die Mädchen schrien, sich der lüsternen Blicke der Gaffer nicht bewußt, aufeinander ein.
»Du hast erwähnt, der Alte hätte drei Präsidenten ermordet«, sagte Lester. Drei Teenager, die mit ihren rasierten Schädeln übermütigen Insekten ähnelten, drängten sich, unterwegs zum Schauplatz der Balgerei, an uns vorbei. »Wer war der dritte?«
»Gus stand mit auf dem Grashügel«, antwortete ich. Der Krawall des Menschenauflaufs glich immer mehr einem Geraune, je weiter wir uns davon entfernten. Lester ließ sich so lange Zeit, bis er auf meine Enthüllung einging, daß ich schon annahm, er hätte mich nicht gehört.
»Im Ernst?«
»Das hat jedenfalls Thatcher mir erzählt. Soviel ich weiß, hatte Gus von Oswalds Anwesenheit keine Ahnung, bis die Schüsse fielen. Vermutlich haben die beiden sich genauso erschrocken wie alle anderen.«
»Wer hat den tödlichen Schuß abgefeuert?«
»Gus ist nicht sicher«,
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