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Ambient 04 - Terraplane

Ambient 04 - Terraplane

Titel: Ambient 04 - Terraplane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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»Sibirische Expeditionsstreitkräfte«, sagte er. »Nachdem die Roten an die Macht gekommen waren. Weiß bis heute nicht, ob diejenigen, die damals auf uns schossen, Bolschewiken waren oder nicht, aber es kam nur ein paarmal vor. Wir kampierten draußen in der Einöde, tranken Kartoffelschnaps und wünschten, wir wären wieder zu Hause. Fror mir den Arsch ab; sie sagten, was wir bekommen hätten, sei die Winterausrüstung, aber ich glaube es nicht. Verlor drei Zehen. Merkte es nicht mal. Eines Tages hieß es dann packen. Sie schickten uns zurück, ohne Erklärung, genau wie vorher, bloß war die Hälfte von uns an Unterkühlung gestorben, und ein weiteres Drittel ging an Typhus und Fleckfieber ein, bevor wir den Heimathafen erreichten. Sie hatten uns nur hinübergeschickt, um möglichst viele von uns loszuwerden, ohne daß jemand etwas merkte, davon bin ich bis heute überzeugt.« Seine Stimme verlor sich in Gedanken, dann kam er mit einer Frage: »Sie waren beim Militär?«
    »Im Ruhestand«, sagte ich; wie er den Feldzug geschildert hatte, entsprach er nicht dem, was ich darüber gelesen hatte, aber seine Ansicht war natürlich voreingenommen. »Woran haben Sie es erkannt?«
    »Die Art und Weise, wie Sie sich geben, Ihre Haltung«, sagte er, bog in die Hundertzehnte und fuhr nach Harlem hinein. »An ihren Schuhen glänzt sogar der Dreck. Einen vom Militär erkenne ich immer.«
    »Die Oberseiten sind mit Everglo …«, fing ich an, den Schuhglanz zu erklären; brach rechtzeitig ab.
    »Wo waren Sie stationiert?« fragte er, ohne aufzumerken.
    »Überall.«
    Er lächelte. »Sie waren also beim Militär und wollen mir erzählen, daß Sie nicht wissen, was Flebben sind? Wie lange haben Sie gedient?«
    »Dreiundzwanzig«, sagte ich. Er beäugte mich nicht direkt, bis wir die nächste Ampel erreichten. Etwas hatte die Farbe der Lampengläser verbleichen lassen; sie zeigten sich als blau und orange.
    »In amerikanischen Diensten?« fragte er; ich zuckte die Achseln. »Wie alt sind Sie?«
    »Siebenundvierzig.«
    »Ich bin neunundvierzig«, sagte er; nach den Falten und der Erschlaffung seines Gesichts hätte ich zehn Jahre hinzugefügt. Wir bogen in die Eighth Avenue ein und fuhren schweigend, vielleicht, weil die Müdigkeit seinen Argwohn überwog. Wenige Minuten später hatten wir offenbar unser Ziel erreicht; Doc fuhr an den rechten Straßenrand der Avenue, vor einem fünfstöckigen Ziegelbau, der älter war als die meisten ringsum. »Ich kann hier bis zum Morgen parken. Wir sind da.«
    Durch das Wagenfenster kam aus Kellerrichtung musikalischer Lärm, Bläsergeschmetter mit Schlagzeugdonner, durchzogen von Saxophongedudel. Als ich die Wagentür öffnete, ging die Musik in unerwartetem Brüllen unter; als es anschwoll, setzte ich einen Fuß auf den Gehsteig. Schwarze Rolläden verhängten den Himmel; in der Nähe durchbrach ein schlanker Metallbaum das Straßenpflaster. Über der Eighth fuhr die U-Bahn auf einer Hochbrücke; ein Zug kreischte stadtauswärts.
    »Lassen Sie mich die Haustür aufsperren«, sagte Doc, ging um den Wagen und öffnete den Kofferraum. »Folgen Sie mir. Hier ist Ihr Gepäck, Luther. Jake, ich kann Ihnen mit Oktoberana helfen.« Zur Linken des Eingangs verlief vom Keller bis zur Bordsteinkante der lange Tunnel einer gewölbten Markise, ein Tentakel, mit dem der Club, aus dem die Musik drang, Kunden einsaugte; der Name des Clubs war Abyssinia.
    »Oktobrjana«, berichtigte ich ihn.
    »Wiegt mehr, als man ihr ansieht«, grunzte Doc. Ich schleppte die Koffer. Hinter der mit schmalen Fenstern versehenen Doppeltür des Eingangs sah ich einen breiten, fliesenbelegten Hausgang, flankiert von Halbsäulen aus Marmorimitation. Ein Kronleuchter erhellte das weiträumige Halbdunkel. Er sperrte die Tür zu seiner Praxis auf – ein Messingschild daran trug seinen Namen –, wozu er einen Schlüssel von mittelalterlichem Aussehen verwendete, dann ging er durch die Eingangshalle, sperrte die Tür gegenüber auf und ging hinein.
    »Wach auf, Wanda!« rief er. »Ich brauche dich für ein paar Patienten, die ich hier habe.«
    »Laß das verdammte Licht aus«, erwiderte eine andere, lautere Stimme.
    »Zieh dir was an und komm her!« Er kam wieder heraus, zog die Tür beinahe zu, ging an uns vorbei und in seine Praxis. »Stellen Sie die Koffer einstweilen hierhin«, sagte er und schaltete zwei Lampen ein. Oktobrjana, bei Bewußtsein, aber groggy, lehnte wandwärts, wurde von Jake am Umkippen gehindert. »Lassen Sie

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