Ambient 05 - Elvissey
sichtete ich die Landmarke, nach der ich gesucht hatte. »Jetzt zehn Spuren linkswärts.«
»Zehn?«
»Wie gesagt«, sagte ich. »John …!« Eines jener wanzenartigen Autos streifte uns fast, als wir uns durchschlängelten. Mein Mann riß am Steuer; ich stieß meine Füße gegen den Boden, als wenn ich uns beim Bremsen helfen könnte. Hupen ertönten wie das Blöken einer aufgeschreckten Viehherde; niemand traf unseren Wagen, obwohl einige sehr nahe kamen. Als John in die richtige Spur schwenkte, sah ich seine Arme zittern; er war so bleich, als wäre ihm das Blut ausgesaugt worden.
»Geradewärts von hier aus?« fragte er. »Iz …?«
»Immer geradeaus, so behauptet die Karte.« Unsere Spur erhob sich und schoß nach Süden davon. Es war schockierend, wie elfenbeinig ich geworden war; meine Hände sahen aus, als gehörten sie nicht nur zu einer anderen, sondern zur Leiche einer anderen. Ich versuchte mich zu entspannen, indem ich die straßensäumende Werbung studierte, die sich in Sekundenabstand zeigte. Die Formulierungen, die ich lesen konnte, lauteten: RUF DOCH MAL AN! / WENN ES REGNET, GIESST ES / ÄRZTE EMPFEHLEN CAMEL / DAS FRÜHSTÜCK DER CHAMPIONS / DIXIELAND NUR 275 MEILEN / ›NOCH EINEN‹ FÜR UNTERWEGS? NEHMEN SIE RUPPERT'S …
»Dort, ohne Gnade«, sagte John und sah an mir vorbei. »Unten.«
Unsere Straße hob uns zehn zusätzliche Meter über die stadteinwärts führenden Spuren, die von der Hauptstrecke abzweigten. Auf das Nicken meines Mannes sah ich nach unten und beobachtete einen entstehenden Unfall. Fahrzeuge häuften sich auf, als wären sie aus einem Beutel geschüttelt worden, und blockierten fünfzehn Spuren. Herankommende Autos und Busse warfen sich unaufhaltsam auf den Scheiterhaufen. Durch die schwarzen Schwaden hatte ich einen neuen Blick auf New York; die Stadt war bereits unsichtbar; sie wurde nicht so sehr durch den Rauch als durch den Dunst verdeckt, der am dicksten über dem Interstate hing. Unsere Spur erreichte wieder den Boden neben neunzehn gleichen und trug uns davon.
»Sie werden sich bis Pennsylvania rückstauen«, sagte ich, während ich hypnotisiert auf die Rauchwolke des Unfalls starrte. Als ich die Augen schloß, spürte ich wieder meine Schmerzen; ob durch Angst, Streß oder Ozon verursacht: Meine Kopfschmerzen verdoppelten sich, als ob mein Gehirn im Gefängnis des Schädels anschwoll. »Beruhigst du dich?« fragte ich meinen Mann.
»Vergleichsweise«, sagte er. »Hätten wir uns überhaupt vorbereiten lassen sollen? Nichts ist wie vorausgesagt.«
»Man hat geschätzt, mehr nicht«, sagte ich. »Momentan sind wir sicher.« Als ich seine Schulter zu streicheln versuchte, schüttelte er mich ab, als ob meine Berührung verbrennen könnte.
»Das glaubten sie auch«, sagte er und nickte zurück zu den Flammen.
»›Das Straßennetz der Federal Interstates‹, heißt es, ›das 1943 von Robert Moses konzipiert wurde, in Übereinstimmung mit den Verkehrsbestimmungen zu Präsident Willkies Notstandsgesetzen, dient noch immer der Nation, wie es ihr nie im Krieg dienen mußte … ‹«
»Dann wurden sie gebaut, um Panzer zu tragen?« fragte John. Ich blätterte die Einleitung des Atlas durch. »Weitere Details?«
»Keine Theorie, nur Fakten«, sagte ich und sah mir die folgenden Seiten an, bis ich zu meiner Lektüre zurückkehrte. »›Erbaut zwischen 1944 und 1953 mit Kosten in Höhe … ‹«
»Du gewöhnst dich so problemlos daran«, sagte er. Eine unzitternde Hand ruhte auf dem Lenkrad; mit der anderen pflückte er Obst aus der Tüte, die er mitgebracht hatte. »Ein ruhigeres Fahren ist unvorstellbar.«
Die offensichtliche Ruhe meines Mannes verstärkte meine; ich legte den Atlas weg und blickte fensterwärts. Zwischen den unaufhörlichen Werbeflächen sah ich die baumlosen, rotziegeligen Steppen Jerseyer Vororte. Waldstücke befleckten die unerschlossenen Flächen, die noch übriggeblieben waren; sie ähnelten der Füllung eines Futons, die an den Nähten herausgeplatzt war. Es fiel mir auf, daß die Werbetafeln eher befahlen als verkauften; sie befahlen den Verbrauchern dieser Welt, acht Stunden täglich zu schlafen, ihre Zähne mit Chlorophyll-Pasta zu putzen, ihre Bürgerpflichten unerschütterlich zu erfüllen, Tabakprodukte zu rauchen, das richtige Mädchen zu heiraten, sich normal zu verhalten, verdächtige Vorkommnisse zu melden und Dixieland zu besuchen.
»Ist Dixieland eine Stadt oder eine Gegend?« fragte John, als er eine der Werbetafeln
Weitere Kostenlose Bücher