Ambient 05 - Elvissey
gefahren wurde, studierte ich das Aktenmaterial, das Leverett mir gegeben hatte, und übersetzte die enthaltenen Verwirrtheiten während des Lesens – über die neuere Geschichte der anderen Welt, wie sie aus dem Geschichtstext, den wir mitgebracht hatten, entnommen oder rückgeschlossen worden war. Im Jahr 1939 jener Welt, wie wir schon vorabreisig wußten, verschlimmerte sich die unmittelbare Zukunft: Die Depression dauerte endlos an, Churchill und Roosevelt waren tot, und Stalin – der während des ersten Alekhine-Transfers gekidnapt und in unsere Welt gebracht worden war – war abwesend, so daß sich niemand Hitler in den Weg stellen konnte.
Der Zweite Weltkrieg folgte hier wie dort; Deutschland besetzte ganz Europa, Japan breitete sich in Asien aus. Trotzki kehrte während Stalins Abwesenheit aus Mexiko nach Rußland zurück, übernahm die Macht, reorganisierte die Rote Arme und stellte Fabriken auf die Kriegsproduktion um. Ein gesonderter Frieden wurde mit Einverständnis von König Edward und von Premierminister Butler aufgesetzt, wurde zwischen Großbritannien und Deutschland arrangiert; im Anschluß daran machte Hitler seine Soldaten für die Invasion Rußlands mobil. Eine Woche vor dem angesetzten Angriff befahl Trotzki selbst den Angriff. Zwei Jahre lang belagerten sich die Truppen an der Ostfront.
In Amerika sah Präsident Willkie die unvermeidbare Einmischung voraus und führte die Wehrpflicht nach seiner Amtseinführung 1941 wieder ein; erklärte Japan und Deutschland nach dem Angriff auf Pearl Harbour später im selben Jahr den Krieg. Die Dinge entwickelten sich zeitweise in ähnlicher Weise wie in unserer Welt. Dann bekam Willkie am Tag X, als die Alliierten bei Marseille landeten, einen Herzinfarkt; Hitler wurde im nächsten Monat von seinen Offizieren ermordet. Ein Waffenstillstand wurde von Trotzki, dem neuen Präsidenten McNary und Kanzler Speer ausgerufen. Der Krieg im Pazifik ging weiter; Deutschland war mit einer bedingten Kapitulation einverstanden und zog sich auf seine ursprünglichen Grenzen zurück. Im August 1945 wurden vierzehn Atombomben in einer Woche von Amerika auf Japan abgeworfen, die Tokio, Kyoto und andere Städte zerstörten; der Krieg endete.
Unsere Experten schlußfolgerten aus dem, was ich ihnen über E's Aussagen betreffend Deutschland erzählt hatte, und aus der McCarthyschen Weise, in der im Text über den Kommunismus gesprochen wurde, daß sich eine Beziehung zwischen Deutschland und Amerika aufbaute, während sich beide auf einen möglichen Angriff durch Rußland irgendwann in der Zukunft vorbereiteten.
Aber was war mit meinen Leuten dort drüben?
Die späteren Kapitel des Buches, die ich nicht gelesen hatte, berichteten, wie der Gewerkschaftsführer A. Philip Randolph im Frühjahr 1942 alle schwarzen Arbeiter zum Generalstreik aufrief und mit der Einstellung der Kriegsproduktion drohte, wenn das amerikanische Apartheidssystem nicht aufgehoben wurde. Sie hatten, zumindest im Norden, Erfolg, aber nicht lange. Nachdem die Aufstände beruhigt waren, wurde eine Notstandsgesetzgebung in Kraft gesetzt und für die Dauer des Krieges alle schwarzen Amerikaner als potentielle Verräter interniert. Der Text spezifizierte nicht, was geschah, sondern stellte nur fest, daß die Gesetze noch in Kraft waren; unsere Experten vermuteten, daß nach dem Krieg deutsche Spezialisten zur Behandlung schwieriger Populationen konsultiert wurden; dort wie hier hatten sie vermutlich in dieser Angelegenheit Erfahrungen gesammelt.
Ich weinte, als mein Wagen vor unserem Gebäude anhielt, und versuchte mir eine Welt ohne mich vorzustellen.
John schlief, als ich ihn fand; seit seiner Entlassung verbrachte er viel Zeit mit Schlafen. Sein Knifelife-Exemplar, dessen schwarzes Cover von verspritzter Batteriesäure gebleicht war, lag offen vor ihm; ich las die Passage, die Jakes Worte wiedergab.
Wenn einer einen anderen tötet, sterben zwei. Vergiß das niemals. Selbst wenn kein Blut vergossen wird, wird unvermeidlich etwas verschüttet. Die Tropfen sammeln sich mit den Jahren um dich; jede Aktion vertieft den Teich. Wenn der Boden einmal verloren ist, ist die Oberfläche unerreichbar. Mach dich auf die Zeit des Ertrinkens gefaßt.
»John«, sagte ich und klopfte auf seine Schulter. Nicht zum ersten Mal drängte sich mir eine immer gegenwärtige Möglichkeit auf, daß er sich in meiner Abwesenheit schließlich in seinen Tiefen verloren hatte. »Liebe …?« Unterbewußt faßte er
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