Ambler by Ambler
meine Eltern in einem Haus in der Wellington Road im Stadtteil Charlton ein. Von dort konnte mein Vater mit dem Fahrrad nach Woolwich fahren und weiter mit der Fähre über die Themse zum Betrieb in Silvertown. Für Reg und Amy Ambrose, die Entertainer am Klavier, die abends und am Wochenende nach London fuhren, bestanden günstige Verbindungen, weil ganz in der Nähe ein Bahnhof war. Die alte Marionettenshow meines Vaters, eine plumpe, konventionelle Angelegenheit mit Puppen, die ein Bühnenausstatter fix und fertig geliefert hatte, war in Ungnade gefallen. Man plante eine neue Show mit zwei Puppen auf der Bühne und zahlreichen Kostümwechseln und Kulissen und Requisiten.
Ich wurde 1909 im Haus an der Wellington Road geboren. Zu den seltsamsten Kindheitserinnerungen gehört der Augenblick, als ich entdeckte, was in der Ottomane versteckt war. Es handelte sich um ein Sofa mit aufklappbarer Sitzfläche, unter der sich eine Art Bettkasten befand. Darin lagen Dutzende von ganz kleinen menschlichen Händen und Füßen. Sie waren fein und schön. Großvater Andrews hatte sie in seiner Werkstatt in Clerkenwell aus Buchen- und Buchsbaumholz angefertigt. Es waren die Hände und Füße für die neuen Marionetten.
Ich erinnere mich noch an mein erstes Nasenbluten. Ursache war, daß ich den Schubkarren, mit dem ich im Maryon Park herumfuhr, an einem steilen Abhang plötzlich nicht mehr lenken konnte. Damals sollte Onkel Frank auf mich aufpassen, der jüngere von Mutters beiden Brüdern. Er war zwölf damals. Er war es auch, der mir vertraulich weitergab, was er von andern Klassenkameraden auf dem Schulhof über Sex und Kinderkriegen herausgefunden hatte, und der mich überhaupt mit all dem unentbehrlichen Firlefanz versorgte, der dann jahrelang zu schlimmen Träumen führte.
1912 wurde mein Bruder Maurice geboren. Die Hebamme war eine gewisse Schwester Black, die ein paar Wochen bei uns wohnte. Ein Haus mit zwei Zimmern im Parterre, zwei Zimmern im ersten Stock und keinem Badezimmer kann zu solchen Zeiten ganz schön voll sein. Ich schlief in der Küche, wo ich mehr hörte und sah als ich verstand. Eines Tages, als die Schwester mir den Rücken zukehrte, schaffte ich es auch, nach oben in das vordere Schlafzimmer zu gelangen und dort den kleinen Fremdling zu sehen, vom dem ich unten gehört hatte. Für die damalige Zeit und die Verhältnisse scheint meine Kindheit nicht sonderlich mühsam gewesen zu sein.
In der Wellington Road, und zwar im Winter vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, habe ich auch zum erstenmal das Wort »Flüchtling« gehört. Gegenüber von uns wohnte einer, in dem Haus mit dem Goldregen. Er hieß Mr. Peschik (jedenfalls klang es so) und war Ungar, sagte mein Vater. Vielleicht war er ein kroatischer Nationalist im Exil, doch seine Vergangenheit hat uns eigentlich nicht interessiert. Für uns war das Wichtige an Mr. Peschik der Umstand, daß er ein Erfinder war, ein Mann von »Originalität« (einer der Lieblingsausdrücke meines Vaters), und daß ihm etwas eingefallen war, wie man das Problem des Hintergrunds bei der neuen Show lösen könnte.
Es existiert eine Fotografie, auf der man erkennt, wie die lebenden Marionetten vor Mr. Peschiks gemaltem Hintergrund aussehen, und obwohl mein Vater die Aufnahme retuschieren ließ, entspricht sie mehr oder weniger dem, was das Publikum während einer Aufführung gesehen hat. Bei früheren Aufführungen hatte als Hintergrund ein schwarzer Stoffvorhang gedient, der an Ringen aufgehängt war und in dessen unteren Saum Bleikügelchen eingenäht waren. Der Schauspieler bedeckte zunächst sein weißes Hemd mit einem langen Latz aus schwarzer Seide und zog schwarze Handschuhe über seine Hände. Dann steckte er den Kopf durch einen oberen Schlitz und die Hände durch zwei untere Schlitze. Nun konnte er die Marionette von der Bühne hochheben und sich die (kopflose) Puppe um den Hals hängen. Dann mußte er die Stäbe, mit deren Hilfe Arme und Beine bewegt wurden, durch die unteren Schlitze ziehen. Diese Stäbe liefen ringförmig zu, so daß der Schauspieler mit den Daumen die Hände und mit den Zeigefingern die Füße bewegen konnte. Er war fertig. Er zog mittels einer Fußleine den vorderen Vorhang hoch und konnte nun mit seiner ersten Nummer beginnen, meistens einem getanzten Song und schnell gesprochenen Texten, die immer wieder eingeschoben wurden. Ein erfahrener Spieler war imstande, innerhalb von zehn bis zwölf Sekunden die Kostüme und »Charaktere« seiner
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