Ambler by Ambler
Finsbury bei einem Rauchkonzert kennengelernt, wurde er sofort von meiner Mutter korrigiert. Es sei eine Veranstaltung des Gesangsvereins gewesen, sagte sie scharf. Wie könne er das bloß vergessen haben! An jenem Abend habe sich ihre Mutter unter den Zuhörern befunden, und damals sei eine Dame nie zu einem Rauchkonzert gegangen.
Selbst wenn mein Vater nicht so schnell und auf etwas komische Weise seinen Irrtum zugegeben hätte, wäre mir klar gewesen, welche Version zutraf. Smoking concerts waren längst gemischte Veranstaltungen. Die Nachbarn besuchten sie. Möglicherweise verkehrten Damen und Herren der Oberschicht noch immer nicht an Orten, wo Männer Pfeife rauchten. Doch das lag daran, daß ihre Damen sehr zart waren und die ganze Zeit Tüllkleider trugen. Unsere Leute, die sich das Gesicht gewaschen und saubere Sachen angezogen hatten, gingen dorthin, wo Unterhaltung geboten wurde: in die hintersten Parkettreihen und die obersten Ränge des Theaters, in die Tanzdielen und (wo es noch billiger war) in die Bürgersäle, in denen die smoking concerts meistens veranstaltet wurden. Das Wort »smoking« hatte in diesem Zusammenhang weniger mit dem Rauchen von Tabak als mit der Zwanglosigkeit der Atmosphäre und dem Tragen bzw. Nicht-Tragen von Fräcken und Abendkleidern zu tun.
Bei dem Rauchkonzert in Finsbury war wohl dies passiert, daß mein Vater, der an diesem Abend als Klavierbegleiter engagiert worden war, ein Auge auf Amy Andrews geworfen hatte, die hübsche neunzehnjährige Sopranistin der Truppe. Der Gesangsverein hatte das Ganze vermutlich organisiert, die Saalmiete und das Honorar für die halbprofessionellen Künstler bezahlt und über seine Mitglieder die Eintrittskarten mit Gewinn verkauft. Ich denke auch, daß meine Eltern sich kennenlernten, ohne einander förmlich vorgestellt worden zu sein, und daß der pflichtvergessene Anstandswauwau Großvater (und nicht Großmutter) Andrews war.
Charles Butler Andrews war aus London und von Beruf Möbeltischler. Er wohnte zwar in Tottenham, aber ich glaube, er fühlte sich am wohlsten in den Kneipen und Teestuben des Geschäftsviertels von Clerkenwell, zwischen Farringdon Road und City. Dort hatte er alte Bekannte, ernste, etwas angetrunkene Männer, die dunkle Anzüge und Melonen trugen und, wie er, oft nach Pfefferminzbonbons und Mahagonistaub rochen. Es waren alles Männer, die er von der Arbeit kannte. Einige waren Geschäftspartner gewesen, einige Unternehmer oder Arbeiter, die meisten waren alles drei gewesen. Als ich alt genug war, um allein draußen vor den Kneipen auf ihn zu warten, konnte er auf eine wechselvolle Geschäftskarriere zurückblicken.
Den ersten Erfolg hatte er als junger Handwerker erlebt, als er seine Lehrjahre gerade erst beendet, sich mit einem Tischlereibetrieb, der für feinmechanische Instrumentenmacher arbeitet, selbständig gemacht und einen Auftrag zur Anfertigung von Holzkästen für die ersten Bell-Telefone erhalten hatte. Kommerzieller Erfolg ist ihm jedoch nie bekommen. Bald hatte er seinen Betrieb vertrunken und mußte sich wieder als Gehilfe verdingen. Sobald genug gespart war, machte er sich wieder selbständig. Diesmal stellte er kleine Artikel her, hübsch furnierte Kästchen und Kisten. Diesmal hatte er auch seine Frau Emmy zu versorgen. Sie war die Tochter eines Anwalts namens Wellbeloved, der zeitlebens im Dienste der City of London gestanden hatte und nach seiner Pensionierung in das Altenstift Charterhouse aufgenommen wurde. Er starb dort im Alter von sechsundneunzig.
»Ein unangenehmer alter Mann«, sagte meine Mutter in späteren Jahren. Das war eine ihrer seltenen vertraulichen Mitteilungen. Sie hatte versucht, nicht nur mir, sondern womöglich auch sich selbst eine Erklärung dafür zu finden, warum ihr Vater, obschon ein hervorragender Handwerker und ein freundlicher Mensch, geliebt von allen, die ihn kannten, zuweilen »ein ganz schöner Halunke« war und seine Familie vernachlässigte.
Sie war das älteste seiner fünf Kinder. Das jüngste war noch ein kleines Baby, als ihre Mutter für den Rest ihres Lebens eine kranke Frau wurde. Tochter Amy hatte sie alle bemuttern müssen. Auch ihren Vater hatte sie bemuttert. Sein Kosename für sie war »Charley« gewesen, ein Name, der sie in schweren Zeiten immer getröstet hatte. Großvater Wellbeloved hatte nie jemanden getröstet. In den schweren Zeiten hatte er sich sogar geweigert, von den Andrews etwas wissen zu wollen.
Nach ihrer Hochzeit mieteten sich
Weitere Kostenlose Bücher