Ambler by Ambler
»Hier!«
Der Justizbeamte unterbrach seinen Redefluß und sah auf. »Wer hat sich da gemeldet?« fragte er.
Ich sagte meinen Namen, und der Richter blickte zu mir herüber. »Treten Sie vor«, sagte er, und nachdem ich seiner Aufforderung gefolgt war, sah er den Mann vom Finanzamt an. »Wieviel?« fragte er.
Das Finanzamt blätterte in einer Liste. »Sechs Pfund fünfzehn Shilling, Euer Ehren.«
Irgend jemand im Raum kicherte. Ich weiß nicht, warum. Eine Steuerschuld von sechs Pfund fünfzehn war in jenen Tagen durchaus kein absurd kleiner Betrag. Anscheinend paßte dem Justizbeamten das Kichern nicht. Er starrte mich an. »Haben Sie das Geld dabei?«
»Nein.« Ich sagte mein Sprüchlein, von der Steuerschuld nichts zu wissen.
Der Richter sah zum Finanzamt hinüber. »In diesem Fall werde ich keinen Zahlungsbefehl erlassen«, sagte er bedächtig. »Sie können die Sache später mit dem jungen Mann draußen besprechen.« Zu mir gewandt, sagte er: »Seien Sie bitte so freundlich, ein paar Minuten draußen zu warten.« Zum Justizbeamten sagte er: »Fahren Sie bitte fort.«
Auf der Vorladungsliste des Finanzamts standen über einhundertfünfzig Namen. Ich war der einzige, der mit persönlichem Erscheinen reagiert hatte. Der wachhabende Polizist an der Tür war jetzt sehr freundlich und zeigte mir, wo ich mich hinstellen sollte, damit man mich später auch fände.
»Der Richter hat für die Steuerleute nicht viel übrig«, sagte er. »Die müssen sich hier ganz schön in acht nehmen. Keine Bange, dir wird schon nichts passieren!«
Der Mann vom Finanzamt gab sich leutselig, doch sein Mund war verdrießlich, und die Augen hatten einen gequälten, bemüht freundlichen Ausdruck. »Wieviel können Sie momentan denn aufbringen?« fragte er.
»Ich habe anderthalb Shilling dabei, aber die brauche ich noch fürs Mittagessen.«
Die Leutseligkeit verflüchtigte sich. »Ich will Ihnen doch nur helfen. Daß Sie keine Steuererklärung abgegeben und keinen Zahlungsbefehl bekommen haben, bedeutet ja nicht, daß Sie uns das Geld nicht schuldig sind. Wieviel können Sie denn wöchentlich erübrigen? Ein Pfund?«
Wir einigten uns schließlich auf zehn Shilling die Woche, aber noch immer wollte er nicht bloß mein Geld, sondern auch meine Sympathie. »Schade, daß ich nicht mehr Zeit für Sie habe«, meinte er, »aber dieser Richter behandelt uns wirklich sehr schoflig. Wenn wir nicht selber hinterher wären und uns um die Steuerschulden kümmerten, er würde nie einen Zahlungsbefehl erlassen, nie und nimmer. Ich weiß gar nicht, was er gegen uns hat. Schließlich ist es ja die öffentliche Hand, der unsere Arbeit zugute kommt. Persönlich haben wir doch gar nichts davon!«
Er brachte ein Zitat von Dr. Johnson über Tod und Steuern an, das uns beiden ein schiefes Lächeln abnötigte, und dann ließ er mich gehen. Der Richter am Amtsgericht Marlborough Street wurde mir immer sympathischer. Sich im Einklang mit den Gesetzen zu befinden, war ein unbekanntes Gefühl. Erstaunt stellte ich fest, daß es ein angenehmes Gefühl war.
In dieser Zeit etwa konnte ich mich Madame Lillian Ginnett nützlich machen. Sie war damals Professor für Sprecherziehung und Schauspielkunst an der Guildhall School. Ich habe jedoch nie gehört, daß sie mit »Frau Professor« angeredet wurde. Sie kam aus einer französischen Schauspielerfamilie und zog es vor, mit »Madam« angeredet zu werden. Vorgestellt wurde ich ihr von Alan Martin Harvey. Er gehörte zu jener englischen Schauspielerfamilie, an deren Spitze damals der Schauspieler/Intendant Sir John Martin Harvey stand. Mein Eindruck war, daß Alan in das Renommee seines Nachnamens etwas mehr Vertrauen setzte als in die Tatsache, daß er dem Institute of Practitioners of Advertising angehörte.
In den dreißiger Jahren trachtete dieses Institut danach, den Feinfühligeren und Gebildeteren unter den Werbeleuten die Möglichkeit zu bieten, hinter den Namen ein paar respekterheischende Buchstaben setzen und sich überhaupt mit jener Aura von Standesehre umgeben zu können, wie sie bei Architekten und Wirtschaftsprüfern beliebt war. Es versprach seinen Mitgliedern noch weitere geschäftliche Vorteile. Agenturen, in deren Firmenleitung Mitglieder des Instituts saßen, durften sich in ihren Geschäftsbriefen als Incorporated Practitioners in Advertising bezeichnen. Alan und sein Vater besaßen solch eine Agentur, deren Klienten sich hauptsächlich aus der Lebensmittelindustrie rekrutierten. Es war
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