Ambler-Warnung
zweites, nicht gemeldetes Handy: Es gab tausend Kleinigkeiten, durch die ein Schwindler sich verraten konnte, und er brauchte nur einen Fehler zu machen. Aber wer die Mühen der Kollation scheute – wer nicht sicherstellen wollte, dass eins waagrecht mit eins senkrecht übereinstimmte –, würde sie nie entdecken.
Adrian, dessen Haar zu trocknen begann, trat mit mehreren Memos in den Händen an Castons Schreibtisch und erläuterte lebhaft, was er sortiert und was er davon weggeworfen hatte. Caston blickte zu ihm auf, bemerkte den tätowierten Unterarm des jungen Mannes und sah gelegentlich einen Zungensticker aufblitzen: beides undenkbar, als er angefangen hatte, aber vermutlich musste auch die Agency mit der Zeit gehen.
»Vergessen Sie nicht, die vierteljährlichen Vordrucke 166 zur Bearbeitung wegzuschicken«, sagte Caston.
»Super«, sagte Adrian. Er sagte oft super, was in Castons Ohren wie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts klang, aber anscheinend war das Wort wieder in Mode gekommen. Soweit Caston beurteilen konnte, hieß es ungefähr: Ich habe gehört, was Sie gesagt haben, und es mir zu Herzen genommen. Vielleicht bedeutete es weniger; mehr bedeutete es bestimmt nicht.
»Was ist heute Morgen eingegangen? Irgendetwas Ungewöhnliches? Irgendetwas ... Irreguläres?«
»Eine Voicemail von Caleb Norris, dem Assistant Deputy Director of Intelligence?« In Adrians Stimme klang eine kalifornische Intonation an – die fragende Stimmhebung, mit der junge Leute heutzutage oft ihre Aussagen relativierten.
»Fragen Sie mich oder erzählen Sie’s mir?«
»Sorry. Das war erzählt.« Adrian machte eine Pause. »Ich habe das Gefühl, dass die Sache dringend sein könnte.«
Caston lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie haben das Gefühl?«
»Ja, Sir.«
Caston betrachtete den jungen Mann, wie ein Insektenforscher eine Gallwespe studiert. »Und Sie ... teilen mir Ihre Gefühle mit. Interessant. Also, gehöre ich zu Ihrer Familie, bin ich Ihr Vater oder Bruder? Sind wir Kumpel? Bin ich Ihre Ehefrau oder Freundin?«
»Na ja, ich ...«
»Nein? Wollte mich nur vergewissern. Dann – und das ist ein Deal, den ich Ihnen vorschlage – erzählen Sie mir bitte nicht, was Sie fühlen. Mich interessiert nur, was Sie denken. Was Sie glauben, selbst wenn Sie sich Ihrer Sache nicht hundertprozentig sicher sind. Was Sie durch Beobachtungen oder Schlussfolgerungen wissen . Was Ihre nebulösen sogenannten Gefühle angeht, behalten Sie sie bitte für sich.« Er machte eine Pause. »Tut mir leid. Habe ich Ihre Gefühle verletzt?«
»Sir, ich ...«
»Das war eine Fangfrage, Adrian. Die dürfen Sie nicht beantworten.«
»Sehr erhellend, Meister«, sagte Adrian, um dessen Lippen ein Lächeln schwebte, ohne sich darauf festzusetzen. »Ich habe verstanden.«
»Aber Sie wollen mir etwas erzählen. Über aus dem normalen Rahmen fallende eingegangene Meldungen.«
»Nun, da gibt’s zum Beispiel diese gelbe interne Mitteilung aus dem Büro des stellvertretenden Direktors.«
»Sie sollten inzwischen die Farbcodes der Agency kennen. Bei der CIA gibt’s kein Gelb.«
»Sorry«, sagte Adrian. »Kanariengelb.«
»Das was bedeutet?«
»Es bedeutet ...« Er machte eine Pause, wusste einen Augenblick nicht weiter. »Es bedeutet einen inländischen Vorfall mit Auswirkungen auf die Sicherheit. Ergo nichts für die CIA1. Etwas für andere Behörden. ASD.« ASD: andere staatliche Dienststellen. Ein Euphemismus für den Papierkorb.
Caston nickte knapp und ließ sich den leuchtend gelben Umschlag geben. Er fand ihn geschmacklos wie einen garstigen, kreischenden Tropenvogel – genau gesagt wie einen Kanarienvogel. Er erbrach das Siegel persönlich, setzte seine Lesebrille auf und überflog rasch die Meldung. Potenzielle Gefährdung der Sicherheit im Zusammenhang mit der Flucht eines Insassen. Ein Patient Nr. 5312 war aus einer geheimen Hochsicherheitsklinik ausgebrochen.
Merkwürdig, dachte Caston, dass der stationär Behandelte hier nicht genannt ist. Er überflog den Bericht nochmals, um festzustellen, wo der Vorfall sich ereignet hatte.
In der Psychiatrischen Klinik Parrish Island.
Das erinnerte ihn an etwas. Es löste ein Alarmsignal aus.
Ambler bahnte sich einen Weg durch die halb im Winterschlaf liegende Strandvegetation – durch einen breiten Streifen aus Stechginster, Strandhafer und Pimentsträuchern, in dem die rauen Blätter und dornigen Zweige sich in seiner nassen Kleidung verfingen – und dann
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