Ambler-Warnung
durch ein Wäldchen aus unbelaubten, in der Salzluft verkümmerten Bäumen. Er zitterte, als der kalte Wind auffrischte, und versuchte den grobkörnigen Sand zu ignorieren, der in seine schlecht sitzenden Schuhe geraten war und ihm bei jedem Schritt die Haut aufschürfte. Da die Langley Air Force Base schätzungsweise zwanzig bis dreißig Meilen nördlich von ihm und die U.S. Naval Base ebenso weit südlich von ihm lag, rechnete er jetzt jeden Augenblick
damit, das tiefe wupp-wupp-wupp eines Militärhubschraubers zu hören. Der Highway 64 war von hier aus keine halbe Meile entfernt. Ambler durfte keine Zeit verlieren. Je länger er hier draußen allein unterwegs war, desto größer war die Gefahr, dass er entdeckt wurde.
Er steigerte sein Tempo, bis er Verkehrslärm zu hören begann. Auf dem breiten Bankett klopfte er sich Sand und Blätter ab, reckte einen Daumen hoch und lächelte. Er war durchnässt und schmutzig und trug eine merkwürdige Uniform. Sein Lächeln würde verdammt beruhigend wirken müssen.
Eine Minute später hielt ein Lastwagen, der das Firmenzeichen von Frito-Lay trug, neben ihm. Der Fahrer, ein mopsgesichtiger Mann mit gewaltigem Wanst und einer gefälschten Ray-Ban-Sonnenbrille, winkte ihn herein. Ambler hatte seine Mitfahrgelegenheit gefunden.
Ihm fiel der Anfang eines alten Kirchenlieds ein: Großer Gott, wir loben dich ...
Ein Lastwagen, ein Auto, ein Bus: Mit zweimal Umsteigen erreichte er einen der entferntesten Vororte der Hauptstadt. In einer Einkaufspassage fand er ein Sportgeschäft, in dem er hastig ein paar unauffällige Sachen aus den Gitterboxen mit Massenware kaufte. Er zahlte mit dem Geld, das er in der Brusttasche der Uniformbluse gefunden hatte, und zog sich im Schutz der Buchsbaumhecke hinter dem Laden um. Er hatte nicht mal Zeit, sich in einem Spiegel zu begutachten, aber er wusste, dass seine neuen Klamotten – Kakihose, Flanellhemd, Windjacke mit Reißverschluss, Baseballmütze – weitgehend der stereotypen Freizeitkleidung des amerikanischen Mannes entsprachen.
An der Bushaltestelle musste er fünf Minuten warten: Rip van Winkle kehrte heim.
Während er beobachtete, wie die Bebauung dichter wurde, als der Bus die eigentliche Stadt Washington erreichte, geriet er in eine nachdenkliche Stimmung. Es gab immer einen Punkt, an dem die im Körper ausgeschütteten Stresshormone erschöpft waren, sodass Aufregung oder Angst einer gewissen Benommenheit wichen. Diesen Punkt hatte Ambler jetzt erreicht. Seine Gedanken schweiften ab. Gesichter und Stimmen aus der Haftanstalt, aus der er entkommen war, kreiselten durch sein Bewusstsein.
Er hatte die Gefängniswärter hinter sich gelassen, aber nicht seine Erinnerungen an sie.
Der letzte Psychiater, der ihn »evaluiert« hatte, war ein hagerer, sehr gestresst wirkender Mann Anfang fünfzig mit schwarzer Hornbrille gewesen. Sein Haar wurde an den Schläfen grau, und die lange braune Tolle, die ihm jungenhaft in die Stirn fiel, unterstrich nur, wie wenig jungenhaft er in Wirklichkeit war. Aber als Ambler ihn genauer betrachtete, sah er noch viele weitere Dinge.
Er sah einen Mann, der – während er an seinen vielfach markierten Ordnern und seinen Filzschreibern (Kugelschreiber galten wie Bleistifte als potenzielle Waffen) herumfummelte, als müsse er sie beschützen – seinen Job und seine Umgebung hasste, weil er die Tatsache hasste, dass er in einer staatlichen Einrichtung arbeitete, die Geheimhaltung über Behandlung stellte. Wie war er hier gelandet? Ambler konnte sich seine Laufbahn mühelos vorstellen, die mit einem ROTC-Stipendium für das College und die Medical School begann und als Assistenzarzt in einem Militärkrankenhaus fortgesetzt wurde. Aber er hatte andere Hoffnungen gehabt, nicht wahr? Ambler, der tausend unterschiedliche Ausdrücke von gekränkter Zaghaftigkeit zu deuten
wusste, sah einen Mann, der sich ein anderes Leben erträumt hatte, vielleicht das eines Film- oder Romanhelden von früher: ein Arbeitszimmer mit wandhohen Bücherregalen auf der Upper West Side in Manhattan, eine gesteppte Ledercouch und ein Ohrensessel, eine Pfeife, eine Klientel aus Schriftstellern, Künstlern und Musikern, faszinierende Herausforderungen.
Jetzt bestand seine schwierigste Aufgabe darin, in einer Einrichtung, die er verabscheute, Patienten nacheinander abzuklappern, denen er ebenso misstraute wie dem Klinikpersonal. In seiner Frustration dürfte er wohl nach etwas anderem gesucht haben, das ihm half, sich
Weitere Kostenlose Bücher