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Ambler-Warnung

Ambler-Warnung

Titel: Ambler-Warnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ludlum
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Stirn und sah sich um: erst wachsam, um etwaige Abweichungen von der Normalität zu erkennen, und dann von ganzem Herzen für diese Normalität dankbar.
    Er war wieder daheim.
    Am liebsten hätte er einen Luftsprung gemacht. Am liebsten hätte er die Arme hochgerissen. Am liebsten hätte er die für seine Gefangenschaft Verantwortlichen aufgespürt und sich brutal an ihnen gerächt: Ihr habt wohl gedacht, ich käme dort nicht raus? Habt ihr das gedacht?
    Dies war nicht das Wetter, das er sich für seine Heimkehr ausgesucht hätte. Der Himmel blieb wolkenverhangen, Nieselregen machte den Asphalt glatt und schwarz. Ein gewöhnlicher Tag in einer gewöhnlichen Stadt, darüber war er sich im Klaren; trotzdem überwältigte ihn nach langer Einzelhaft die frenetische Aktivität, die ihn auf allen Seiten umgab.
    Er kam an achteckigen Laternenmasten aus Beton vorbei, die mit Metallbändern umreift waren, an denen fotokopierte Werbezettel und Kleinplakate hingen. Lyriklesungen in Kaffeehäusern. Auftritte von Rockbands, die ihre Garagen erst vor Kurzem hinter sich gelassen hatten. Ein neues vegetarisches Restaurant. Ein Kabarett mit dem dümmlichen Namen Miles of Smiles. All das kunterbunte, summende Durcheinander menschlicher Aktivität, das auf durchweichten Papierfetzen nach Aufmerksamkeit schrie. Das Leben draußen. Nein, verbesserte er sich: einfach nur das Leben.
    Er verrenkte sich den Hals, war bis in die Zehenspitzen wachsam. Eine gewöhnliche Straße an einem trüben Tag. Hier drohten Gefahren, gewiss. Aber erreichte er sein Apartment, bekam er den alltäglichen Schutt seiner Existenz zurück,
dessen bloße Gewöhnlichkeit ihn so kostbar für ihn machte. Das Gewöhnliche war, wonach er sich sehnte; das Gewöhnliche war, was er brauchte.
    Würden sie wirklich den Versuch wagen, ihn hier aufzuspüren? Hier, an einem der wenigen Orte dieser Welt, an dem ihn tatsächlich Menschen kannten? Dies war bestimmt der sicherste Ort von allen. Selbst wenn sie aufkreuzten, hatte er keine Angst vor einer öffentlichen Konfrontation. Er war leichtsinnig genug, sie fast herbeizusehnen. Nein, er würde die Verursacher seiner Haft nicht fürchten; stattdessen mussten sie jetzt ihn fürchten. Offenbar hatten verbrecherische Elemente das System missbraucht und versucht, ihn lebend zu begraben. Sie hatten ihn mit den verlorenen Seelen eingekerkert: Spione, die wegen Depressionen erstarrt oder aufgrund von Wahnvorstellungen rasend waren. Nachdem er nun frei war, mussten seine Feinde flüchten und sich irgendwo verkriechen. Was sie auf keinen Fall riskieren durften, war eine öffentliche Konfrontation mit ihm, die unweigerlich die Polizei des Bundesstaats auf den Plan rufen würde. Je mehr Leute über ihn informiert waren, desto größer war ihr Risiko, enttarnt zu werden.
    An der Ecke Connecticut Avenue und Ordway Street sah Ambler den Zeitungskiosk, an dem er jeden Morgen vorbeigekommen war, wenn er in Washington war. Er sah den Grauhaarigen mit der Zahnlücke und seiner unvermeidlichen roten Strickmütze hinter dem Ladentisch stehen und lächelte.
    »Reggie!«, rief Ambler aus. »Reggie, alter Kumpel.«
    »He«, sagte der Zeitungsverkäufer. Aber das war ein Reflex, keine Begrüßung.
    Ambler kam mit großen Schritten auf ihn zu. »Lange nicht mehr gesehen, was?«

    Der Zeitungsverkäufer betrachtete ihn nochmals. In seinem Blick lag keine Spur von Erkennen.
    Ambler sah auf den Stapel mit Exemplaren der Washington Post hinunter, von denen das oberste vom Regen fleckig war, und spürte einen Stich ins Herz, als er das Datum sah. Die dritte Januarwoche – kein Wunder, dass es so kalt war. Er blinzelte angestrengt. Fast zwei Jahre. Fast zwei Jahre waren ihm gestohlen worden. Zwei Jahre voller Vergessenheit und Verzweiflung und Anomie.
    Aber dies war nicht die rechte Zeit, sich über Verluste zu grämen.
    »Komm schon, Reggie! Wie geht’s, alter Junge?
    Auf Reggies runzligem Gesicht verhärtete Verwirrung sich zu Misstrauen. »Hab kein Kleingeld für dich, Kumpel. Und bei mir gibt’s auch kein’ Kaffee nich’ umsonst.«
    »Komm schon, Reggie – du kennst mich.«
    »Verzieh dich, Mann«, sagte Reggie. »Mach bloß keinen Ärger.«
    Ambler wandte sich wortlos ab und ging den halben Straßenblock zu dem großen neugotischen Apartmentgebäude weiter, in dem er seit zehn Jahren wohnte. Die in den zwanziger Jahren errichteten Baskerton Towers waren ein fünfstöckiger Klinkerbau mit hellgrauen Halbsäulen und Pfeilern aus Beton. Hinter den

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