Ambler-Warnung
gescheitert.
Es waren trockene, sachliche, sorgfältig gewählte Worte, aber sie beschrieben treffend den idealistischen jungen Kandidaten, den Ambler gesehen hatte. Ein Mann, der sich ohne politisches Kalkül für seine Ideale einsetzte und deshalb umso mehr respektiert wurde.
Die Datei über Kurt Sollinger war weit weniger umfassend. Der Wirtschaftsunterhändler hatte sich fünfzehn Jahre lang in verschiedenen Positionen um die europäische Wirtschaft verdient gemacht – zuerst im europäischen Binnenmarkt, dann in der EG und schließlich in der EU. Er war Jahrgang 1953 und hatte seine Jugend in Deurne in Belgien verbracht, einem Mittelstandsvorort von Antwerpen. Sein Vater war ein in Lausanne ausgebildeter Osteopath, die Mutter Bibliothekarin. Während seiner Schulzeit im Lyceum van Deurne und den ersten Universitätsjahren an der Katholieke Universiteit Leuven hatte Sollinger mit den üblichen linken Gruppierungen sympathisiert, aber in einer für seine Generation nicht außergewöhnlichen Weise. Es gab ein Foto aus den frühen achtziger Jahren, das ihn auf einer Demonstration gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland zeigte. Er hatte verschiedene Petitionen von Greenpeace und anderen Umweltorganisationen unterzeichnet. Aber diesen Aktivismus ließ er ab seinem dreißigsten Lebensjahr hinter sich. Stattdessen hatte er sich mit Feuereifer auf seine akademische Laufbahn gestürzt und unter einem gewissen Professor Lambrecht über lokale Ökonomie und europäische Integration
promoviert, was immer das auch heißen mochte. Ambler durchstöberte den trockenen Bericht. Aber was suchte er eigentlich? Er wusste es nicht. Aber wenn es irgendwo ein Muster zu entdecken gab, dann musste er es finden. Er musste offen und aufnahmefähig bleiben. Er würde es erkennen. Oder auch nicht.
Ambler scrollte die Seiten hinunter und überflog eine langweilige Liste aller dienstlichen Referenzen und Empfehlungen, die der mehrsprachige Dr. Kurt Sollinger sich im Lauf seiner Karriere ergattert hatte. Er hatte niemals einen spektakulären Karrieresprung geschafft, sich aber allmählich immer weiter nach oben gearbeitet. Unter seinen Kollegen, allesamt gut ausgebildete Eurokraten wie er selbst, hatte er sich den Ruf eines ehrlichen und intelligenten Mannes erworben. Der nächste Abschnitt von Sollingers Kurzbiografie trug den Titel »Das Ost-Team«. Dieser Bericht beschäftigte sich mit seiner Rolle als Vorsitzender einer Sonderkommission, die sich um den Handel zwischen Westen und Osten kümmerte. Diesen Abschnitt las Ambler sorgfältiger. Die Gruppe hatte große Fortschritte bei der Ausarbeitung eines speziellen Handelsabkommens zwischen Europa und China gemacht, war aber durch den Tod des wichtigsten europäischen Unterhändlers Kurt Sollinger in ihrer Arbeit weit zurückgeworfen worden.
Mit heftig klopfendem Herzen tippte Ambler den Namen Benoit Deschesnes ein. Er überflog die Details von Deschesnes’ Gymnasial- und Universitätslaufbahn, die Professuren und Berufungen, die bürokratischen Details der Arbeit des Franzosen für die »Monitoring, Verification and Inspection Commission« der UNO und dann seinen schnellen Aufstieg an die Spitze der Internationalen Atomenergiebehörde.
Er wusste jetzt, wonach er suchte, und er fand es ganz am Ende der Datei. Deschesnes hatte eine Sonderkommission
einberufen, die untersuchen sollte, ob der Vorwurf, China strebe nach dem Besitz von Nuklearwaffen, auf Tatsachen beruhte. Der herrschenden Meinung nach waren diese Vorwürfe rein politischer Natur, aber einige Beobachter wollten sichergehen, dass nicht doch etwas Wahres daran war. Als Generaldirektor der IAEA genoss Deschesnes den Ruf eines aufrechten und absolut unparteiischen Mannes. Die Analysten des amerikanischen Außenministeriums waren zu dem Schluss gekommen, dass sein Bericht, der seit einem Jahr in Arbeit war, die chinesische Regierung von allen Vorwürfen freisprechen würde. Das neueste Update, das erst vor einigen Stunden gespeichert worden war, besagte jedoch, dass die Veröffentlichung der Ergebnisse der Untersuchungskommission auf unbestimmte Zeit verschoben werden musste, da der Chef der IAEA einem Attentat zum Opfer gefallen war.
China.
Alle Fäden liefen in China zusammen. Was für Fäden das waren, wusste Ambler noch nicht. Aber ihm war jetzt kristallklar, dass das Attentat auf Wai-Chan Leung nicht das Ergebnis einer Fehleinschätzung gewesen war. Man hatte nicht blindlings die
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