Ambler-Warnung
haarsträubenden Lügen seiner politischen Gegner geglaubt, sondern diese Lügen im Gegenteil als Vorwand missbraucht. Alles deutete daraufhin, dass Wai-Chan Leungs Tod Teil eines Musters war. Ein Element einer groß angelegten Verschwörung, bei der wichtige Persönlichkeiten des politischen Systems eliminiert wurden, die Chinas neuer Führung freundlich gesinnt waren. Aber warum?
Alle Schlussfolgerungen warfen nur noch mehr Fragen auf. Wenn er durch gezielte Irreführung zum Handlanger gemacht worden war, dann waren dieser Technik zweifellos auch noch andere zum Opfer gefallen. Gerade Fentons fanatischer Eifer machte es besonders leicht, ihn zu missbrauchen.
Eiferer wie er ließen sich gefährlich leicht in die Irre führen, da ihr Fanatismus ihr gesundes Misstrauen leicht überwog. Es wäre einfach, an Fentons Patriotismus zu appellieren, ihn mit falschen Informationen zu füttern – und sich dann einfach zurückzulehnen und abzuwarten.
Aber noch einmal: Warum?
Ambler sah auf die Uhr. Er war bereits zu lange geblieben, jeder Moment, den er noch verweilte, erhöhte das Risiko, dass er enttarnt wurde. Bevor er den Bildschirm ausschaltete, tippte er allerdings noch einen letzten Namen ein.
Zehn endlose Sekunden vergingen, während die Vierundachtzig-Terabyte-Festplatten das ernüchternde Ergebnis ausspuckten:
Keine Einträge zu Suchbegriff HARRISON AMBLER.
Kapitel einundzwanzig
Die Mercedes-Limousine, die Undersecretary Ellen Whitfield zum Anwesen gebracht hatte, wartete in dem gekiesten Parkbereich. Die Lady betrat gerade das prächtige Gebäude.
Das Chäteau de Gournay – nur vierzig Autominuten von Paris entfernt – war ein architektonisches Schmuckstück aus dem siebzehnten Jahrhundert, das zwar weniger protzig wirkte als das nahe Versailles, im Detail jedoch nicht weniger beeindruckend war. François Mansart hatte es für einen Herzog am Hof Ludwigs XIV entworfen, und es gehörte zu des besterhaltenen Chäteaus dieser Art in Frankreich. Vom Foyer, das dem Ideal des französischen Klassizismus der damaligen Zeit entsprach, bis zu dem oft fotografierten, aus Stein gemeißelten Buffet. Die elf Schlafzimmer waren noch original erhalten, die Tennisplätze und der Swimmingpool waren jüngeren Datums.
Seit rund fünfzig Jahren wurde das Château von internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen als Tagungsort genutzt. Dorthin zogen sich Spitzen-Industrielle und ihre Nachfahren aus dem Informationszeitalter zu ungestörten Gesprächen zurück. Im Moment hatte ein Washingtoner Thinktank mit quasi unbegrenzten finanziellen Mitteln das Anwesen gemietet. Und zwar auf besonderen Wunsch von Professor Ashton Palmer. Der wissenschaftliche Berater der Asienexperten des Thinktanks tagte besonders gern an Orten, die das Beste in sich vereinten, was die Zivilisation zu bieten hatte.
Ein uniformierter Hausdiener begrüßte Undersecretary Whitfield im Foyer.
»Monsieur Palmer erwartet Sie im blauen Salon, Madame«, sagte der französische Butler, ein Mann Ende fünfzig mit gebrochener Nase, kantigem Kiefer und durchtrainiertem Körper. Ein Mann, der – wie sie vermutete – auch in Bereichen Erfahrung und Können vorzuweisen hatte, die nicht direkt für seine Stellung als Butler erforderlich waren. Whitfield wäre nicht überrascht gewesen, wenn Palmer einen ehemaligen Fremdenlegionär als Butler eingestellt hätte: Er glaubte an »multifunktionale« Angestellte – einen Kammerdiener, der gleichzeitig Übersetzer war, einen Butler, der auch als Bodyguard eingesetzt werden konnte. Palmers Vorliebe für Vielfältigkeit war eng mit seiner Ästhetik verwandt, denn er predigte unentwegt die Schönheit des Nützlichen. Er hatte erkannt, dass jede Person mehrere Rollen auf der Bühne der Geschichte spielen konnte und dass die bestmögliche Aktion mehr als eine Folge haben musste. Palmers Doktrin der Vielfältigkeit war auch der Schlüssel zu dem Szenario, das er gerade auf die Bühne gebracht hatte.
Der blaue Salon war ein achteckiges Erkerzimmer mit einem Blick über die Stallungen. Die gewölbte Decke war mindestens fünf Meter hoch, die Teppiche waren feinste Beispiele nahtloser Weberei aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die Kronleuchter hätten auch in ein Museum gepasst. Undersecretary Whitfield trat an ein Fenster und betrachtete die wunderbar gestaltete Parklandschaft. Auch die Stallungen waren elegante, Ziegel gedeckte Fachwerke und hätten jederzeit in ein luxuriöses Wohnhaus umgewandelt
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