Ambler-Warnung
das nötige Hirnschmalz«, sagte Palmer. »Eine geistige Kühnheit, die sich nicht erlernen lässt.«
»Ich erinnere mich daran, was du über Dschingis Khan gesagt hast. Dass er, modern ausgedrückt, für Handels- und Religionsfreiheit eintrat, weil er nur so sein Imperium kontrollieren konnte.«
»Und genau das machte ihn so gefährlich.« Er breitete die Hände auf der Intarsien-Tischplatte aus Birnbaumholz aus.
»Genau. Du zeigtest uns auf einer Weltkarte die größten Ausmaße des Mongolenreiches, als Dschingis Khans Sohn und Erbe Ogodei 1241 Kiew einnahm, ein deutsches Ritterheer im Osten vernichtete, sich durch Ungarn kämpfte und vor den Toren Wiens stand. Weiter zogen die Horden nicht. Das Mongolenreich war beinahe deckungsgleich mit dem späteren Ostblock. Das hat uns total umgehauen. Du hast das Mongolenreich und das kommunistische Weltreich verglichen, beide reichten von Nordkorea und China bis nach Mitteleuropa. Das gleiche Gebiet, du nanntest es den >Fußabdruck
der Geschichte<. Und es war reiner Zufall, dass die Mongolen vor Wien umkehrten.«
»Reiner Zufall«, wiederholte Palmer. »Ogodei war gestorben, und die Heerführer wollten in ihre Heimat zurückkehren, um seinen Nachfolger zu bestimmen.«
»Du hast uns gezeigt, dass die großen Weltreiche alle nach dem gleichen Muster funktionierten. Im sechzehnten Jahrhundert war Suleiman der Prächtige der mächtigste Sultan des Osmanischen Reiches und gleichzeitig setzte er sich am stärksten für Gleichheit vor dem Gesetz, faire Gerichtsverfahren und Handelsfreiheit ein. Und du hast die Behauptung bewiesen, dass die östlichen Reiche umso gefährlicher für den Westen waren, je liberaler ihre Herrscher sie regierten.«
»Es gibt nur wenige Menschen, die das Menetekel an der Wand lesen können«, sagte Palmer. »Vor allem, wenn die Schrift chinesisch ist.«
»Du hast diesen verschlafen dreinblickenden Kids erklärt, warum China – das Reich der Mitte – in den vergangenen Jahrhunderten keine Bedrohung für die Hegemonie des Westens dargestellt hat, obwohl es durchaus sein größter Rivale hätte sein können. Der Große Vorsitzende Mao war eben ein richtiger Papiertiger. Je totalitärer das chinesische Regime war, desto vorsichtiger, defensiver und mehr nach innen gerichtet war auch seine militärische Haltung. Du hast diesen starken Stoff so mitreißend präsentiert, dass niemand mehr verschlafen aus der Wäsche geguckt hat, als du fertig warst. Den Kids war nämlich klar geworden, was du damit sagen wolltest. Ich weiß noch, dass ich eine Gänsehaut hatte.«
»Aber die meisten Menschen ändern sich nie. Deine Kollegen im Außenministerium weigern sich immer noch, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Je westlicher die Regierung Chinas sich ausrichtet, desto größer wird die militärische und
wirtschaftliche Bedrohung für uns durch diese neue Konkurrenz. Der chinesische Präsident hat ein nettes Gesicht, und dieses Gesicht hat unsere Regierung blind für die Realität gemacht: Er ist entschlossen, den schlafenden Drachen zu wecken.« Er warf einen Blick auf seine schmale, elegante Patek-Philippe-Uhr, die, wie Whitfield auffiel, sowohl die Greenwichzeit als auch die Ortszeiten von New York und Peking anzeigte.
»Schon als Studentin habe ich begriffen, dass du allen anderen einen Schritt voraus warst. Du hattest so viel mehr bereits verstanden. Dein Seminar über internationale Beziehungen, an dem ich im ersten Jahr meines Hauptstudiums teilnehmen durfte, gab mir das Gefühl, zu einem kleinen Kreis Auserwählter zu gehören.«
»Fünfzig Studenten hatten sich beworben, aber ich nahm nur zwölf auf.«
»Unglaubliche Leute. Ich war bestimmt nicht die Klügste von ihnen.«
»Das vielleicht nicht«, räumte Palmer ein. »Aber du warst besonders ... vielversprechend.«
Sie erinnerte sich an die Einführungssitzung des Hauptseminars. Professor Palmer hatte davon gesprochen, wie die Welt aus der Perspektive des britischen Premierministers Benjamin Disraeli ausgesehen haben musste, der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts an der Spitze der mächtigen Pax Britannica stand. Disraeli musste geglaubt haben, sein Imperium sei unbesiegbar und das folgende Jahrhundert werde den Briten und ihrer mächtigen Flotte gehören. Aber ein paar Jahrzehnte später war von Großbritanniens einstiger Großmachtstellung nicht mehr viel übrig. Diese Transformation hatte Palmer damit verglichen, dass vom Imperium Romanum nur Italien übrig geblieben war.
Das zwanzigste
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