Ambler-Warnung
Jahrhundert war das amerikanische Jahrhundert gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Amerikas industrielle und wirtschaftliche Vormachtstellung unangefochten, und die ausgetüftelte Platzierung von Amerikas militärischen Kommandoposten sorgte dafür, dass diese Macht bis in die hintersten Winkel der Erde reichte. Aber Palmer warnte vor der leichtfertigen Annahme, dass auch das nächste Jahrhundert im Zeichen Amerikas stehen würde. Wenn das Reich der Mitte vollständig erwachte, würde das nächste Jahrhundert ihm gehören, und die globale Hegemonie würde sich nach Osten verlagern. Und eine Politik des »konstruktiven Engagements« würde die Chinesen zusätzlich stärken und ihren Aufstieg noch beschleunigen.
In Anlehnung an Marx, der die französischen »Marxisten« um 1870 strikt abgelehnt hatte, erklärte auch Ashton Palmer einmal bissig, er sei absolut kein »Palmerit«. Er distanzierte sich damit von der vulgären Falschauslegung seiner Kerndoktrin und gleichzeitig von den Leuten, die aus seiner Arbeit historische Zwangsläufigkeiten ableiteten. Palmers Methode verband die Epochengeschichte zu langen Zeiträumen, die Jahrhunderte umspannte, mit der aktuellen Zeitgeschichte. Diese Methode ließ sich nicht auf Slogans, Sprüchlein oder Formeln reduzieren. Und absolut nichts war unvermeidlich; das war sogar der zentrale Punkt. Wer an historischen Determinismus glaubte, ergab sich nur der Passivität. Die Geschichte der Welt war die Geschichte menschlicher Taten. Sie wurde durch menschliches Handeln gemacht. Und verändert.
Der livrierte Butler räusperte sich.
»Professor Palmer«, sagte er. »Eine dringende Nachricht für Sie.«
Palmer wandte sich mit bedauernder Miene an Whitfield. »Würdest du mich kurz entschuldigen?«
Er ging einen langen Flur entlang und verschwand in einer Tür. Als er ein paar Minuten später zurückkehrte, wirkte er gleichzeitig besorgt und elektrisiert.
»Alles fügt sich zusammen«, verkündete er Whitfield. »Und das erhöht den Druck natürlich enorm.«
»Verstehe.«
»Was ist mit Tarquin?«
»Wie du gesagt hast, fügt sich alles zusammen.«
»Und seine neue Begleiterin? Gibt es womöglich Grund zur Sorge?«
»Kein Grund zur Sorge. Wir haben ein Auge auf sie.«
»Ich kann dir gar nicht oft genug sagen, dass wir nur noch zweiundsiebzig Stunden haben. Alle müssen ihre Rolle perfekt spielen.«
»Bis jetzt«, versicherte Undersecretary Whitfield ihm, »haben das auch alle getan.«
»Auch Tarquin?«, fragte Palmer. Seine grauen Augen blitzten.
Whitfield nickte, um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. »Vor allem Tarquin«, bestätigte sie.
Ambler blickte starr geradeaus, als er die Rue Saint-Florentin 2 verließ. Er wollte wie ein Mann wirken, der keine Zeit zu verlieren hatte. Das war nicht besonders schwierig, denn schließlich hatte er auch keine Zeit zu verlieren. Als er auf die Straße trat und das Konsulat hinter ihm lag, verlangsamte er seinen Schritt und schlenderte wie ein zielloser Spaziergänger an den roten Balustraden und reich dekorierten Schaufenstern vorbei. Er lief von der Place de la Concorde in Richtung Rue Saint Honoré – also vom Frieden in Richtung Ehre – und beobachtete dabei seine Umgebung aufmerksam, auch wenn er wirkte, als sei er völlig in Gedanken versunken.
Wachsam auf seine Umgebung zu achten, bedeutete nicht nur, genau hinzuschauen. Es bedeutete auch, genau hinzuhören. Man musste auf die Schritte der Menschen achten, die man nicht sah, da ein möglicher Verfolger sein Tempo immer wieder an das Zielobjekt anpassen musste, um einen konstanten Abstand zu ihm zu wahren.
Ambler realisierte, dass ihn tatsächlich jemand verfolgte, aber kein Geheimagent würde sich dabei derartig tollpatschig anstellen. Er hörte, wie jemand ihm nacheilte, der eindeutig kürzere Beine hatte als er. Und der, dem leichten Keuchen nach zu urteilen, körperlich in schlechterer Verfassung war.
Ambler wusste, dass er sich bedroht fühlen sollte. Aber der Verfolger bewegte sich so wenig diskret wie ein Kellner, der einem Zechpreller nachrennt. Vielleicht war das Sinn und Zweck dieser Vorstellung. Versuchte man, einen erfahrenen Agenten dadurch zu überlisten, dass man ihn durch so viel Auffälligkeit in Sicherheit wiegte?
Ambler beschleunigte seinen Schritt und bog vor dem nächsten Häuserblock nach links in die engere Rue Cambon, und kurz danach in die Rue du Mont Thabor ein. Zehn Meter vor ihm befand sich ein Gässchen, das hinter einer Reihe
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