Ambler-Warnung
geredet hatte. »Schön, dass Sie wieder unter den Lebenden weilen.« Er legte die Zeitschrift, in der er gelesen hatte – das Journal für angewandte Mathematik und stochastische Analyse –, zur Seite. »Gehen Sie jetzt endlich von meinem Bett runter?«
»Entschuldigung.« Ambler streckte sich, stand auf und setzte sich wieder in den senffarbenen Sessel. Er musste eingenickt sein. Nach seiner Uhr waren vier Stunden vergangen.
»Also war Transience Ellen Whitfields Deckname.«
»Ja, sie hat ihn benutzt, als sie selbst noch im Außendienst war. Als die Akten digitalisiert wurden, gingen diese Informationen verloren. Alle offiziellen Dokumente wurden vernichtet. Besonders was ihre eigenen Daten anging, war sie da sehr streng. Alles musste weg. Sie sagte, das sei eine Sicherheitsvorkehrung.«
»Das erklärt auch, warum der Deckname nirgendwo hinführte«, sagte Caston. Er sah den Agenten schweigend an und deutete auf die Flasche. »Wollen Sie noch einen?«
Achselzuckend antwortete Ambler: »Gibt es in der Minibar auch Mineralwasser?«
»Sicher, da steht eine Flasche Evian. Der halbe Liter kostet umgerechnet neun Dollar und fünfundzwanzig Cent. Neun Dollar für einen halben Liter Wasser? Bei dem Gedanken kommt mir das Kotzen.«
Ambler seufzte. »Ich sollte wahrscheinlich Ihr Rechentalent bewundern.«
»Reden Sie keinen Blödsinn! Ich habe doch alles abgerundet.«
»Bitte sagen Sie mir, dass Sie keine Familie haben.«
Caston errötete.
»Sie treiben Ihre Angehörigen bestimmt in den Wahnsinn.«
»Ach was«, sagte der Revisor beinahe lächelnd. »Meine Frau und meine Kinder hören mir überhaupt nicht zu.«
»Das macht dann vermutlich Sie wahnsinnig.«
»Ehrlich gesagt, ist es mir ganz recht.« Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Castons Gesicht, den Ambler erst einen Moment später als Verehrung erkannte. Überrascht wurde ihm klar, dass der staubtrockene Revisor ein hingebungsvoller Vater war. Dann kehrte Caston, plötzlich wieder ganz geschäftsmäßig, zum eigentlichen Thema zurück. »Beschreiben Sie mir den Mann, der mit Undersecretary Whitfield in der Bibliothek saß, möglichst genau.«
Ambler ließ den Blick ins Leere schweifen und vergegenwärtigte sich den Anblick vor seinem inneren Auge. Ein Mann Mitte sechzig. Silbergraues, sorgfältig frisiertes Haar über einer hohen, erstaunlich faltenlosen Stirn. Feine Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, markantes Kinn. Ambler beschrieb den Mann genau so, wie er ihn in Erinnerung hatte.
Caston hörte zu und schwieg wieder lange. Dann stand er plötzlich erregt auf, an seiner Stirn begann eine Ader zu pochen. »Das ist unmöglich«, hauchte er.
»Ich sehe sein Bild vor mir«, sagte Ambler.
»Sie beschreiben – aber das kann nicht sein.«
»Raus mit der Sprache.«
Caston fummelte an seinem Laptop herum, den er an die Telefonbuchse angeschlossen hatte. Nachdem er einige Suchworte in eine Suchmaschine eingegeben hatte, trat er beiseite und winkte Ambler zu sich. Auf dem Bildschirm erschien das Foto eines Mannes. Des Mannes, den Ambler in Whitfields Haus gesehen hatte.
»Das ist er«, bestätigte Ambler mit angespannter Stimme.
»Wissen Sie, wer das ist?«
Ambler schüttelte den Kopf.
»Sein Name ist Ashton Palmer. Whitfield hat bei ihm studiert.«
Achselzuckend erwiderte Ambler: »Ja und?«
»Später sagte sie sich von ihm und all seinen Lehren los. Sie brach den Kontakt zu ihm vollkommen ab. Sonst hätte Sie niemals Karriere in der Regierung gemacht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ashton Palmer? Klingelt da nichts bei Ihnen?«
»Er kommt mir nur irgendwie bekannt vor«, sagte Ambler.
»Vielleicht sind Sie zu jung, um sich daran zu erinnern. Vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren galt er als der hellste Stern am Himmel der amerikanischen Außenpolitik. Seine Artikel für Foreign Affairs wurden überall abgedruckt. Beide Parteien umwarben ihn. Er hielt Seminare im Old Executive Building, im Westflügel des Weißen Hauses, sogar im verdammten Oval Office. Die Leute hingen an seinen Lippen. Er bekam ehrenhalber einen Posten im Außenministerium, aber er war für Größeres bestimmt. Er sollte der nächste Kissinger werden: einer der Männer, deren
Visionen Geschichte machen. Egal, ob im Guten oder im Bösen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Eine Menge Leute sagen, er habe sich selbst zerstört. Oder sich vielleicht einfach bloß verrechnet. Man erkannte, dass er ein Extremist und ein gefährlicher Fanatiker war. Er dachte vielleicht,
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