Ambler-Warnung
seine politische und intellektuelle Autorität sei bereits so groß, dass er mit seinen Ansichten nicht mehr hinter dem Berg halten müsse. Er dachte, er könne die Menschen allein deshalb für sich gewinnen, weil er die besseren Argumente hätte. Aber da täuschte er sich. Seine Ansichten waren gefährlich und hätten sein Land auf einen Kollisionskurs mit der ganzen Welt geführt. Im Macmillan Institut für Außenpolitik in D.C. hielt er einen so hetzerischen Vortrag, dass einige Nationen, die fürchteten, er vertrete die US-Regierung oder einen Teil der US-Regierung, tatsächlich damit drohten, ihre Botschafter zurückzurufen. Können Sie sich das vorstellen?«
»Kaum.«
»Der Außenminister musste die ganze Nacht am Telefon Schadensbegrenzung betreiben. Und quasi über Nacht fiel Palmer in Ungnade. Er nahm eine Professorenstelle an einer Eliteuniversität an, baute sein eigenes Forschungszentrum auf und wurde in den Vorstand eines eher randständigen Thinktanks in Washington gewählt. Dieses Foto stammt von der Harvard-Website. Und alle Mitglieder des Außenministeriums, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, gerieten unter Verdacht.«
»Also machte kein Palmer-Anhänger Karriere.«
»Ganz im Gegenteil. Palmeriten sind in allen Ministerien zahlreich vertreten. Es sind brillante Studenten, Absolventen der Kennedy-School von Harvard oder des Graduiertencolleges
für Regierungswesen. Aber wer Karriere machen will, darf nicht zugeben, dass er Palmerit ist. Und er darf keiner Verbindung zu dem alten Gauner überführt werden.«
»Ergibt Sinn.«
»Und doch haben Sie die beiden zusammen gesehen. Und das ergibt keinen Sinn.«
»Langsam, langsam. Warum nicht?«
»Wir reden über eine Entscheidungsträgerin im Außenministerium, die in der Gesellschaft von Ashton Palmer angetroffen wurde. Ist Ihnen klar, in welches Wespennest Sie da gestochen haben? Ist Ihnen klar, dass Whitfields Karriere ruiniert gewesen wäre, wenn jemand davon erfahren hätte? Ein großer Amerikaner sagte einmal: >Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel.< Und dieses Risiko konnten die beiden nicht eingehen.«
Ambler kniff die Augen zusammen und dachte an Ellen Whitfields wutverzerrtes Gesicht. Jetzt verstand er die Angst, die sie gezeigt hatte. »Darum ging es also.«
»Gut möglich, dass es nicht nur darum ging«, sagte Caston pedantisch wie immer. »Aber für ein hochrangiges Mitglied des Außenministeriums bedeutet es beruflichen Selbstmord, eine Beziehung zu Professor Palmer aufrechtzuerhalten. Besonders als Leiterin der Political Stabilization Unit konnte es Whitfield sich nicht leisten, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden.«
Ambler lehnte sich nachdenklich zurück. Whitfield war eine geschickte und ausgekochte Lügnerin. Allen anderen hätte sie zweifellos eine Ausrede darüber auftischen können, was Palmer in ihrem Haus zu suchen hatte. Aber Ambler war der Einzige, den sie nicht täuschen konnte, und das wusste sie.
Deshalb hatte man ihn außer Gefecht gesetzt. Das war die Information, die auf keinen Fall nach außen dringen durfte. Das Band mit seinen paranoiden Tiraden war eine Versicherungspolice und sollte gewährleisten, dass man seinen Worten keinen Glauben schenken würde.
Wahrscheinlich war Whitfield an diesem Abend in Panik geraten und hatte Code 918PSE aktiviert, das selten genutzte Protokoll für einen psychiatrischen Notfall, der einen Geheimagenten betraf. Weil er gedroht hatte, er habe Vorkehrungen getroffen – was bedeutete, dass seine Informationen an die Presse gelangen würden, falls er sterben sollte –, war sie zu dem Schluss gekommen, dass die einzige Lösung war, ihn wegzusperren. Und ihn dann einfach verschwinden zu lassen.
Mit hämmerndem Herzen versuchte Ambler zu begreifen, dass ein so dummer kleiner Zufall sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Was wollte Whitfield verbergen? Nur eine persönliche Beziehung? Oder noch mehr?
Er entschuldigte sich und rief Laurel auf dem Handy an. Er gab ihr die Namen der beiden Hauptakteure durch. Sie vermuteten, dass sie in den Beständen der riesigen Bibliothèque Nationale de France im achten Arrondissement reichlich Material über die beiden finden würde. Wissenschaftliche Arbeiten, die auf anderem Weg kaum zu bekommen waren.
Nachdem er aufgelegt hatte, fühlte er sich besser, und ihm wurde klar, was der eigentliche Grund für seinen Anruf gewesen war. Er wollte ihre Stimme hören. Laurel Holland hatte ihn vor der völligen Verzweiflung
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