Ambler-Warnung
Softdrink-UNO, dachte er sarkastisch.
Noch belebter war die angrenzende Computerzone. Strahlenförmig angeordnete Computertische mit Stühlen, Terminals mit Intranetzugang. Sie waren durch dekorative dünne Glastanks mit einer klaren Flüssigkeit voneinander abgetrennt, in der ein langsamer, stetiger Strom von Luftblasen aufstieg. Dutzende Finger klapperten auf Dutzenden von Tastaturen, in den Gesichtern der Benutzer sah Ambler Langeweile, Zufriedenheit, Unsicherheit und Aggression. Aber nichts, was einen zweiten Blick wert gewesen wäre. Er spähte über die Brüstung und sah, dass unten ein noch viel größerer Raum lag, ein Terrarium der Macht. An der riesigen Ziegelwand, auf die er blickte, hingen große Skulpturen aus Afrika und Polynesien, die einen merkwürdigen Kontrast zu den zahlreichen Flaggen mit dem Logo des Weltwirtschaftsforums bildeten, die an der unteren Kante des Balkons befestigt waren.
Ambler ging die Treppe hinunter und tauchte in die schwatzende Menschenmenge ein. Er warf einen Blick auf die Uhr und bahnte sich einen Weg durchs Gedränge. Offensichtlich eine Verschnaufpause zwischen zwei Vorträgen. Die Leute
stillten ihren nachmittäglichen Hunger, griffen bei den Häppchen, die auf silbernen Tabletts herumgetragen wurden, reichlich zu und hielten Kristallgläser in den Händen, in denen Getränke schwappten, die das Gütesiegel des WEF erhalten hatten. In der Luft hing der Duft von teurem Parfüm, Aftershave und Haargel, nicht zu vergessen der Duft von Bündnerfleisch auf Pumpernickelbrot, einer Spezialität der Region. Ambler verlangsamte seinen Schritt und beobachtete die Menschen, die ihn umgaben.
Ein relativ junger, dicklicher Mann in einem altmodischen, aber gut geschnittenen Anzug – was sich daran zeigte, dass sein Bierbauch erst auf den zweiten Blick auffiel – war umgeben von seiner leicht zerrupft wirkenden Entourage. Der Mann ließ seine Blicke durch den Raum wandern, er registrierte alle Anwesenden, die nicht in seiner Nähe standen. Gelegentlich murmelte er der schwarzhaarigen, unförmigen Frau neben sich etwas in einer slawisch klingenden Sprache zu. Wahrscheinlich der frisch gewählte Präsident einer baltischen Republik, der nach ausländischen Investoren Ausschau hielt. Einen Augenblick lang ruhte der Blick des Mannes auf jemandem, und Ambler sah ebenfalls in diese Richtung: Am entgegengesetzten Ende des Raums stand eine junge kurvenreiche Blondine; sicherlich die Vorzeigeehefrau des kleinen ältlichen Plutokraten neben ihr.
Ambler nickte dem Slawen freundlich zu, und der Mann nickte zurück. Sein halb freundlicher, halb misstrauischer Blick war eigentlich eine Frage: Sind Sie jemand, den ich kennen sollte? Er schämte sich seines Nichtwissens. Ambler spürte auch, dass die Entourage dem jungen Mann zwar Halt gab, aber gleichzeitig sein Unbehagen noch verstärkte. Er war daran gewöhnt, der wichtigste Mann im Zimmer zu sein. Hier in Davos spielte er in der Unterliga, und es war ihm unangenehm,
dass seine Entourage das miterlebte. Ein paar Meter neben ihm stand ein älterer schlanker Mann, ein amerikanischer Milliardär, dessen »Enterprise-Software« auf der ganzen Welt Industriestandard war. Er war umringt von Leuten, die mit ihm sprechen wollten. Wie pfeifende, zirpende Modems versuchten sie, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Er war ein Planet, den Satelliten umkreisten. Hingegen schienen sich nur die wenigsten für den baltischen Politiker zu interessieren. In Davos standen die Oberhäupter kleiner Staaten in der Hackordnung unter den Managern großer, multinationaler Konzerne. Die Globalisierung sorgte – genau wie neue Business-Strukturen – eben nicht für »flachere Hierarchien«, wie ihre Befürworter behaupteten, sondern etablierte einfach neue.
Ambler setzte seine Wanderung fort und bemerkte, dass sich dieses Muster wiederholte. Manche Gestalten schwollen durch die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit auf Überlebensgröße an, andere schrumpften, weil sie niemand beachtete. Wieder andere wirkten schon überglücklich darüber, die gleiche Luft atmen zu dürfen wie die Giganten neben ihnen. Eine Tablettladung Häppchen nach der anderen verschwand in den gierigen Schlünden, aber Ambler bezweifelte, dass die Leute überhaupt schmeckten, was sie da aßen. Es gab Wichtigeres als Essen. Die »Sozialunternehmer« – wie sich die eher weitsichtigen Vorsitzenden von Hilfsorganisationen und NGOs inzwischen nannten, weil sie begriffen hatten, dass in der neuen
Weitere Kostenlose Bücher