Ambler-Warnung
Hauptstadtnamen gekreuzt wurden. Das E in Deutschland war gleichzeitig das E in Berlin, das A in Frankreich gleichzeitig das A in Paris, und das I in Indien begrenzte die absteigenden Buchstaben von Neu Delhi. Ambler fragte sich, ob sich Länder wie Italien oder Polen darüber beschwert hatten.
Trotzdem war er beeindruckt von der Sorgfalt, mit der jedes Detail gestaltet worden war. Das jährliche Gipfeltreffen dauerte nur sechs Januartage, danach wurden alle Wände neu gestrichen und die Skulpturen und Dekorationen eingemottet. Und dennoch war alles mit einer Sorgfalt eingerichtet, die auch dauerhafteren Strukturen nur selten zuteil wurde. Im World Café hielten sich ungefähr zwanzig Leute auf, die meisten saßen auf durchsichtigen Plexiglasstühlen. Rechts saß eine attraktive, wenn auch recht maskulin wirkende Frau in einem marineblauen Kostüm, die einen schweren Ring am Finger trug. Als Ambler sich ihr näherte, bemerkte er, dass um ihren Hals kein Schal hing, wie er von weitem gedacht hatte, sondern ein professionell aussehendes Headset. Nun sah er auch, dass ihr Ausweis nicht weiß war wie die anderen, sondern blau. Ein wenig weiter hinten sah er einen Mann, dessen sympathisches, eckiges Gesicht bald hängebackig sein würde. Er trug eine dicke Hornbrille mit bernsteinfarbenen Gläsern und einen Janker mit Hornknöpfen, der sich über seinem dicken Bauch spannte – Ambler hielt ihn für einen Deutschen oder Österreicher –, und unterhielt sich mit einem Mann, den Ambler nur von hinten sah. Der Mann hatte wirres, weißes Haar und trug einen blauen Anzug. Bestimmt Investment-Banker, die ein bisschen zu begeistert darüber waren, hier teilzunehmen: Gäste statt Teilnehmer, die unterste Stufe in der unverrückbaren Hierarchie des Gipfels. An einem anderen Tisch saß ein wohlhabend aussehender Mann mit schütterem, grau meliertem Haar. Er blätterte in einer Dokumentenmappe; seine Augen blickten gelassen hinter seiner Stahlbrille hervor. Er wirkte wie jemand, der die Regeln der Geschäftswelt kannte und sie strikt beachtete. Ein Mann mit einem hellen Anzug und graubraunem Haar sprach mit einem Enthusiasmus auf ihn ein, der nicht
erwidert wurde. Offenbar hatte er das Gespräch mit dem Brillenträger gesucht. Der dritte Mann am Tisch trug einen Blazer mit breitem Revers, ein rosa und blau gestreiftes Hemd und eine gepunktete Krawatte. Entweder war er Brite oder wollte unbedingt einer sein. Er beugte sich vertraulich zu den beiden Männern hinüber, hörte angelegentlich zu und warf hin und wieder eine Bemerkung ein. Unter seiner zur Schau getragenen Bonhomie spürte Ambler Unsicherheit: Er war sich nicht sicher, ob die beiden anderen ihn am Gespräch teilnehmen ließen oder seine Anwesenheit nur duldeten.
Als Attentäter kam keiner dieser Gäste infrage.
Am Ende eines langen Flures im Erdgeschoss des Kongresszentrums drückte Caston sein Handy ans Ohr und lauschte konzentriert auf Adrians Anweisungen. Gelegentlich unterbrach der Buchprüfer den Redefluss seines Assistenten mit einer gemurmelten Frage.
Was Adrian gerade machte, gehörte eigentlich nicht zu seinem Aufgabenbereich als Mitarbeiter des Internal Review, aber seinem erfrischend unkomplizierten Assistenten schien das überhaupt nichts auszumachen. Wenn Caston sich nicht sehr täuschte, dann genosses Adrian sogar, auch einmal in die Rolle des shifu zu schlüpfen.
Ambler lief eine breite Treppe aus rotem Granit hinunter und erreichte eine Art Mezzanin, das wie der erste Rang eines Opernhauses wirkte. In einem Flur, der sich von der Treppe fortschlängelte, hing ein Schild mit der Aufschrift TV-STU-DIO; vermutlich für die Interviews mit den anwesenden Ehrengästen reserviert. Ein anderer Alkoven war mit dem Schild KONFERENZRÄUME gekennzeichnet, wahrscheinlich für Gespräche in kleinerer Runde. Die meisten Besucher strömten
nach links, wo sich hinter dem Mezzanin ein weiterer Erfrischungsraum mit Korbsesseln und einer Bar befand, auf der Flaschen und Getränkedosen standen: Softdrinks, Fruchtsäfte und Ahnliches. Hoch an der Wand angebrachte Flachbildschirme informierten über Terminänderungen und zeigten Ausschnitte aus einigen besonders wichtigen »Briefings«. Aus der Nähe sah Ambler, dass die Getränke aus aller Welt stammten: Fruksoda, ein Zitronen-Limonengetränk aus Schweden; Appletize, ein Apfelsaftschorle aus Südafrika; Mazaa, ein Mangogetränk aus Indien; sogar Titan, eine Stachelbeerlimo aus Mexiko. Eine richtige
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