Ambler-Warnung
das her? -, und machte sich auf abgehärmte, angespannte Züge gefasst.
Als er sich dann endlich im Spiegel sah, wurde ihm schwindelig.
Er sah ein fremdes Gesicht.
Ambler spürte, wie seine Knie unter ihm nachgaben, und fand sich im nächsten Augenblick auf dem Fußboden wieder.
Als er sich wieder aufrappelte, stellte er fest, dass er den Mann im Spiegel nicht kannte. Er war keine abgehärmte, ausgezehrte Version seiner selbst. Er war nicht er selbst mit Altersfalten auf der Stirn oder dunklen Ringen unter den Augen. Er war nicht er.
Die markanten hohen Backenknochen, die schmale Adlernase: Alles zusammen ergab einen recht gut aussehenden Kopf – den die meisten Leute für attraktiver als Amblers früheren gehalten hätten –, wenn daraus nicht eine gewisse Grausamkeit gesprochen hätte. Seine eigene Nase war runder gewesen, breiter und an der Spitze fleischiger; seine Wangen waren voller, sein Kinn war gespalten gewesen. Er ist nicht ich, dachte Ambler, und das Unlogische daran schlug wie eine gewaltige Woge über ihm zusammen.
Wer war der Mann, den er im Spiegel sah?
Dies war ein Gesicht, das er nicht kannte, in dem er aber lesen konnte. Und was er darin las, war dasselbe Gefühl, das ihn jetzt übermannte: Entsetzen. Nein, mehr als Entsetzen. Namenloses Grauen.
Der Schwall aus Psychiaterjargon, der in den Monaten seiner Gefangenschaft über ihn hinweggebrandet war – Dissoziationsamnesie, schizotypische Persönlichkeitsstörung, Borderline-Schizophrenie, Persönlichkeitsverlust – erklang plötzlich wieder in seinen Ohren. Als lausche er einem Chor aus gemurmelten Stimmen, als könne er wieder hören, wie die Psychiater darauf bestanden, er habe einen psychotischen Anfall erlitten und drifte jetzt durch fiktive Identitäten.
Konnten sie recht gehabt haben?
War er vielleicht doch verrückt?
Teil zwei
Kapitel fünf
Schlaf, unruhiger Schlaf umfing ihn schließlich, aber selbst Bewusstlosigkeit bot ihm keine Zuflucht. Seine Träume waren in Erinnerungen an ein fernes Land gefangen. Wieder wölbte ein Bild sich schimmernd auf wie ein Stück Kinofilm vor einer überhitzten Projektionslampe – und er wusste plötzlich, wo er war.
Changhua, Taiwan. Die jahrhundertealte Stadt war auf drei Seiten von Bergen umgeben, nach Westen hin lag die Straße von Taiwan – der achthundert Kilometer breite Meeresarm, der die Insel vom Festland trennt. Im 17. Jahrhundert waren während der Ching-Dynastie Einwanderer aus Fukien herübergekommen, und ihnen waren viele Wellen von Siedlern gefolgt. Jede neue Welle hinterließ ihre charakteristischen Spuren, aber die Stadt entschied wie ein vernunftbegabtes Wesen, welche Neuerungen sie beibehalten wollte und welche in der Geschichte versinken sollten.
In einem Park am Fuß der Baguaberge stand ein von zwei großen Steinlöwen bewachter gewaltiger Buddha. Touristen gafften die Buddhastatue an; den Einheimischen galten die Löwen – wehrhafte Tiere mit gespannten Muskeln und gefletschten scharfen Zähnen – fast ebenso viel. Früher war Changhua ein wichtiges Fort gewesen. Heute lag in der Großstadt eine Garnison anderer Art. Eine Garnison der Demokratie.
In den Außenbezirken der Stadt, zwischen einer Papierfabrik und einer Blumenfarm, war ein Podium errichtet worden.
Hier sollte Wai-Chang Leung, den viele für den zukünftigen Präsidenten Taiwans hielten, vor vielen tausend Menschen sprechen. Aus den Kleinstädten Tianwei und Yungjing waren seine Anhänger auf der ländlichen Route 1 herbeigeströmt, und ihre staubigen kleinen Wagen verstopften alle Gassen und Seitenstraßen. Seit Menschengedenken hatte kein politischer Kandidat die Bewohner Taiwans in solche Aufregung versetzt.
Er war in vieler Beziehung ein außergewöhnlicher Mensch und obendrein viel jünger als die meisten Mitbewerber: erst siebenunddreißig Jahre alt. Obwohl er aus einer reichen Kaufmannsfamilie stammte, war er ein echter Populist mit einem Charisma, das gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten ansprach. Er hatte die am schnellsten wachsende taiwanische Partei gegründet und war persönlich für ihr bemerkenswert breites Spektrum verantwortlich. Die Inselrepublik hatte keinen Mangel an politischen Parteien und Organisationen, aber Wai-Chan Leungs hatte sich durch ihr klares Bekenntnis zu Reformen sofort von ihren Konkurrenten abgehoben. Nachdem Leung auf lokaler Ebene erfolgreich gegen Korruption gekämpft hatte, forderte er jetzt das Mandat, Politik und Wirtschaft Taiwans von
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