Ambler-Warnung
gebracht hatte. Er wusste auch, dass sie sich verzweifelt nach Trost und körperlicher Wärme sehnte. Er konnte sie nicht zurückweisen, ohne sie zu verletzen. Und die Wahrheit war, dass er es auch gar nicht wollte.
Eine Mischung aus Schuldgefühl und beinahe schmerzhaftem Verlangen überwältigte ihn, und bald waren sie nur noch zwei nackte Körper, die auf das Bett taumelten, sich zitternd und erhitzt aneinanderdrängten und sich die Wärme gaben, nach der beide so sehr verlangten. Als sie sich schließlich trennten – erschöpft, atemlos, von Schweiß bedeckt -, fanden sich ihre Hände. Sie verschränkten die Finger ineinander, als könnten sie es nicht ertragen, ganz voneinander getrennt zu sein. Jetzt nicht. Noch nicht.
Nachdem sie eine Zeit lang schweigend nebeneinandergelegen hatten, sah Laurel ihn an. »Ich habe auf der Fahrt hierher einen Zwischenstopp eingelegt«, flüsterte sie. Sie rollte sich zum Bettrand, stand auf und holte das Bündel, das sie mitgebracht hatte. Ambler betrachtete ihren nackten Körper, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Gott, war sie schön.
Aus einer Plastiktüte holte sie ein großes, schweres Buch und gab es ihm.
»Was ist das?«
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Sieh es dir an.«
Er knipste die Nachttischlampe an. Es war ein in Leinen gebundenes Jahrbuch, auf dessen braunem Einband das Wappen des Carlyle College aufgedruckt war. Das Buch war noch in vom Alter leicht brüchig gewordene Folie eingeschweißt. Seine Augen weiteten sich unwillkürlich.
»Das Original«, sagte sie. »Unberührt, unverändert, unverfälscht. Dies ist deine Vergangenheit. Dieses Buch konnten sie nicht ausradieren.«
Sie hatte einen Zwischenstopp im Carlyle College eingelegt. »Laurel«, flüsterte er. Dankbarkeit und andere machtvolle Emotionen stiegen in ihm auf. »Das hast du für mich getan?«
Sie sah ihn unverwandt an, und in ihren Augen lagen Schmerz und Liebe. »Ich habe es für uns getan.«
Er nahm das Buch in beide Hände. Es war schwer, ein gebundenes Werk, das Jahrzehnte überdauern sollte. Laurels Vertrauen zu ihm zeigte sich daran, dass sie es nicht einmal für nötig gehalten hatte, das Jahrbuch selbst aufzuschlagen.
Sein Mund war ausgetrocknet. Sie hatte einen Weg gefunden, die Mauer aus Lügen zu durchbrechen und die grausame Farce aufzudecken, mit der man ihn quälte. Laurel Holland. Meine Ariadne.
»Du meine Güte«, sagte er fassungslos.
»Du hast mir gesagt, wo du studiert hast und in welchem Jahrgang du warst. Also habe ich nachgedacht. Sie haben versucht, deine Vergangenheit auszulöschen, und sie haben wahrscheinlich genug getan, um die Suche für einen Fremden zu erschweren. Aber mehr als das konnten sie nicht tun.«
Schon wieder die gleiche, vage Formulierung: Sie. Ein Wort, das den Abgrund verbarg, der sich unter ihm auftat. Ambler nickte ermutigend.
»Es gibt einfach zu viel Material in einem Leben. Darüber habe ich nachgedacht. Stell dir vor, es hat sich Besuch angekündigt, und du rennst noch schnell mit dem Staubsauger durchs ganze Haus. Auf den ersten Blick sieht alles sauber und ordentlich aus. Aber irgendwas übersieht man immer: den Staub unter dem Teppich, den Pizzakarton unter dem Sofa. Man muss nur danach suchen. Vielleicht haben sie ja die Daten im Computer des Rektors verändert. Aber ich war
im Büro der Ehemaligen-Organisation und habe dein Jahrbuch gekauft. Das reale, greifbare Buch. Es hat sechzig Dollar gekostet.«
»Du meine Güte«, wiederholte Ambler. Er hatte einen Kloß im Hals. Jetzt ritzte er die brüchige Folie mit dem Fingernagel an, setzte sich auf und lehnte sich gegen das Bettgestell.
Aus dem Jahrbuch stieg ein Geruch auf, der verriet, wie teuer der Druck gewesen war: ein Duft nach Druckerschwärze und schwerem Hochglanzpapier. Er begann zu blättern und lächelte, als er die Fotos alter Studentenstreiche sah: Der berüchtigte Kürbis-Streich, die ausgewachsene Guernsey-Kuh, die sie in die Bibliothek geschmuggelt hatten. Mit nervös wedelndem Schwanz hatte das Tier alle Kartenkataloge umgeworfen. Wie dünn damals doch die meisten Studenten gewesen waren. So musste er auch ausgesehen haben.
»Da werden Erinnerungen wach, stimmt’s?« Laurel kuschelte sich an ihn.
Amblers Herz begann schmerzhaft zu klopfen, während er langsam weiterblätterte. Das solide Gewicht des Buches hatte etwas ungemein Tröstliches. Er erinnerte sich an sein offenes, einundzwanzigjähriges Gesicht und an das Zitat unter seinem Foto, einen Ausspruch
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