Ambler-Warnung
Morgen mich angeglotzt haben. Wie ein Stück Fleisch. Denen war völlig egal, ob ich lebe oder draufgehe. Einer sagte, er wolle >gleich einen wegstecken<, sobald ich bewusstlos wäre. Und der andere wollte sich auch an mir >erfreuen<. Beide waren sich einig, dass es ja niemand erfahren würde. Und das war noch das Harmloseste, was sie mit mir vorhatten. Aber sie hatten nicht mit dir gerechnet.«
»Aber wenn ich nicht gewesen wäre ...«
»Hör auf damit! Du tust so, als sei das alles deine Schuld. Aber sie sind daran schuld, und dafür werden sie auch bezahlen. Hör auf deinen Instinkt, dann wirst du die Wahrheit schon herausfinden.«
»Die Wahrheit«, wiederholte er. Eine leere Worthülse.
»Du bist real«, sagte sie. »Darauf kannst du dich verlassen.« Sie zog ihn an sich. »Ich glaube an dich. Und du musst auch an dich glauben. Versuch es bitte. Für mich.«
Die Wärme ihres Körpers stärkte ihn wie eine Rüstung. Sie war so stark. Er musste ebenfalls seine Kräfte sammeln und stark sein.
Sie schwiegen lange.
»Ich muss morgen nach Paris, Laurel«, sagte er schließlich.
»Flucht oder Verfolgung?« Die Frage war gleichzeitig eine Herausforderung.
»Ich weiß es nicht. Ich grabe mich tiefer in den Fuchsbau hinein. Ich muss dem Labyrinth folgen, egal, wohin es mich führt.«
»Das verstehe ich.«
»Aber wir müssen uns innerlich wappnen, Laurel. Vielleicht finde ich heraus, dass ich nicht der bin, für den ich mich halte. Sondern jemand anders, der für uns beide ein Fremder ist.«
»Du machst mir Angst«, sagte Laurel leise.
»Vielleicht solltest du Angst haben«, sagte Ambler. Sanft umschloss er ihre Hände mit den seinen. »Vielleicht sollten wir beide Angst haben.«
Es dauerte lange, bis er einschlief, und als der Schlaf endlich kam, brachte er ungebetene Bilder aus einer Vergangenheit mit, die er immer noch als seine eigene betrachtete.
Das Gesicht seiner Mutter. Das dicke Make-up, das ihre blauen Flecken verdeckte. Der Schmerz und die Verwirrung in ihrer Stimme:
Hat dein Daddy das zu dir gesagt? Hat er gesagt, dass er uns verlassen will?
Nein, gesagt hat er nichts.
Dann ... Was ist bloß in dich gefahren? Bist du vom Teufel besessen? Warum sagst du so etwas?
Aber es ist doch klar, siehst du es denn nicht?
Das verwirrte, schmerzverzerrte Gesicht seiner Mutter löste sich auf und wurde durch Paul Fentons staunenden, berechnenden Ausdruck ersetzt.
Für mich sind Sie ein gottverdammter Zauberer. Ein Magier. Puff – der Elefant verschwindet von der Bühne . Puff – der Zauberer verschwindet mitsamt Umhang und Zauberstab. Wie zum Teufel haben Sie das gemacht?
Tja, wie nur?
Ein anderes Gesicht schob sich dazwischen, zuerst sah er nur die Augen. Augen voller Verständnis und Gelassenheit. Sie gehörten Wai-Chan Leung.
Wisst ihr, woran mich das erinnert? An den Mann, der vor langer Zeit in einem Dorf ein Geschäft eröffnete. Dort verkaufte er einen Speer, von dem er behauptete, nichts könne ihn aufhalten. Gleichzeitig verkaufte er einen Schild, von dem er behauptete, nichts könne ihn durchdringen.
Er war nach Changhua zurückgekehrt, in die entlegensten Winkel seines Geistes. Erinnerungen, die aus seinem Bewusstsein verschwunden gewesen waren, überfluteten ihn nun wie ein Fluss, der einer verborgenen Quelle entspringt.
Er wusste nicht, warum er sie vergessen hatte. Er wusste nicht, warum sie jetzt wieder zu ihm zurückkamen. Die Erinnerungen brannten sich schmerzhaft in ihn ein und rissen alte Wunden wieder auf ...
Er war Zeuge eines brutalen Anschlags gewesen. Während er dem Sterbenden in die Augen sah, verspürte er nichts von dessen spiritueller Gelassenheit. Stattdessen ergriff ein so heftiger Zorn von ihm Besitz, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Er und seine Kollegen waren manipuliert worden. Das war ihm jetzt klar. Das Dossier war ein Lügenteppich aus einem Dutzend Unglaubwürdigkeiten, die erst zusammen ein überzeugendes Bild geliefert hatten.
Du hast etwas durchschaut, was du nicht hättest durchschauen dürfen.
Am Ende des Tages verkündete die taiwanesische Regierung,
dass einige Mitglieder einer linksradikalen Gruppe, die angeblich hinter dem Anschlag steckte, verhaftet worden waren. Die Gruppe wurde offiziell als Zelle einer terroristischen Vereinigung deklariert. Tarquin kannte diese sogenannte Zelle gut: Sie bestand aus einem Dutzend Langzeitstudenten, die nur Fotokopien maoistischer Pamphlete aus den fünfziger Jahren verteilten und bei einer Tasse
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