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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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mehr gegeben, vielleicht hatte man sie Marian verheimlicht. Aber vorhin, als er Konrad angesehen hatte, stand ihm ein sonderbares Bild vor Augen: eine einsame Hütte im Wald, von der niemand etwas wusste, in die jemand heimlich Lebensmittel, Decken und Süßigkeiten geschafft hatte, und mittendrin Konrad, der die Hütte sorgfältig herrichtete und immer wieder innehielt, um sie zu betrachten. Sogar eine Kerze, die er der Mutter gestohlen haben musste, stand auf einer kleinen Kiste und flackerte auf, als Konrad sie anzündete.
    Plötzlich lachte Marian, denn er wusste, wo sein Bruder war. Als der Vater zurück in die Werkstatt gegangenwar, stand er auf und machte sich auf den Weg hinaus in den Forst, dorthin, wo er die geheime Hütte vermutete.
     
    Marian erkannte Konrad schon von weitem. Die Hütte war zwar von einer Gruppe junger Buchen verdeckt und lag etwas abschüssig an einem Hang, aber Konrad kam immer wieder herausgelaufen, zog die Decke zurecht, die er als Eingangstür angebracht hatte, und dichtete mit einer Handvoll Moos die Ritzen zwischen den Balken ab. Sein Fluchen, wenn er auf ein paar nassen Buchenblättern ausrutschte, war weithin hörbar. Als Marian sah, wie klein die Hütte war, wusste er, dass er mit seiner Eingebung richtig gelegen hatte: In diese kleine Hütte konnte unmöglich die gesamte Kompanie hineinpassen, diese Hütte bot höchstens Platz für zwei.
    Die Hände fest gegen den Mund gepresst, kauerte Marian hinter einer mit Efeu bewachsenen Holzbank und dachte daran, wie sich die Jungs aus den höheren Klassen anstrengten, den Mädchen nahezukommen. Wie sie ihnen nachgingen, vor ihrer Schule standen und ihnen Limonade anboten, Wochen, Monate konnte sich das hinziehen, bis ein Mädchen nachgab und sich küssen ließ. Marian dachte an seinen Bruder, wie unbeholfen er immer tat, wenn etwa Lilli oder Agnieszka aus der Nachbarschaft bei ihnen im Hof erschienen, und da tat er ihm leid. Marian wusste, wie man mit Mädchen zu reden hatte, wie man sie zum Lachen brachte, schließlich hatte er, bevor sein Bruder ihn aufgenommen hatte, die meiste Zeit bei ihnen verbracht, und die Mädchen hatten mit seinen blonden Locken gespielt und ihm Blumen hinter die Ohren gesteckt. Ganz anders Konrad: Der kannte nur den Umgang mit den Mitgliedern der Kompanie. Aber war er nicht sein Bruder, und hatte erihn nicht immer vor den anderen Kompanien beschützt?
    Als Konrad sich von der Hütte entfernte, beschloss Marian, seinem Bruder etwas auf die Sprünge zu helfen. Er hob einen Ast vom Boden auf, entfernte die Seitentriebe und ging hinüber zur Hütte. Vorsichtig umkreiste er sie, den Ast auf dem Boden, und fuhr immer wieder eine Linie nach, die er zwischen das Laub in die Erde ritzte. Dreimal umzog er die Hütte, dann stellte er sich vor den Eingang und lächelte zufrieden.
     
    Heinz Segenreich war der stärkste Junge der Kompanie. Kaum zwei, drei Schläge brauchte er, damit Konrad Mischa bewusstlos ins Gras zwischen den Buchen fiel. Aber wie hatte das auch ausgesehen: Um das neue Hauptquartier der Kompanie hatte sich ein riesiges Herz gerankt, noch dazu durchbohrt von einem Pfeil! Die Spitze hatte direkt auf ihn, Heinz Segenreich, gezeigt, als er mit Konrad zur Hütte gekommen war. Konrad war sofort errötet, tat überrascht, schockiert, aber da war es schon zu spät.
    Als Marian sich am Abend wieder nach Hause traute, war Konrad bereits von der Mutter verarztet worden und würdigte seinen Bruder keines Blickes. Die Eltern sollten nie ganz begreifen, was die Brüder derart hatte entzweien können: Nie wieder sahen sie sie miteinander reden, Fußball spielen oder zusammen zum Meer fahren. Auch verschwiegen sie ihnen, was Konrad zugestoßen war oder warum Marian sich so lange versteckt hatte: Magda war zu erschrocken, und Kazimierz war es halbwegs egal gewesen, auch wenn er das vage Gefühl nicht abschütteln konnte, dass es ein Fehler gewesen war, Marian den Anhänger zu schenken.

     

    Wenige Wochen nach Kingas Ankunft in der Stadt hatten sich bereits herbstliche Nebel vom Fluss gelöst, waren in die Gassen der Innenstadt gedrungen und bereiteten die große Kälte vor. Auf den Straßen und in den Parks, die an den Resten der Stadtmauer entlangliefen, ließen sich immer weniger Menschen sehen, so dass man meinen konnte, einer jener Schicksalsschläge habe die Stadt heimgesucht, zu denen sie seit Jahrhunderten neigte; seien es Seuchen, Kriege oder die Verschiebung von Staatsgrenzen. Dabei war es nur der Herbst,

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