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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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mit Regenpfützen und Schneematsch. Am nächsten Tag sind sie mit schwarzem Eis und Mauern aus gefrorenem Matsch überzogen. Am dritten Tag und danach senken starke Winde, im Volksmund der Montreal Express, die gefühlte Temperatur noch ab, während immer mehr Fußgänger stürzen und auf dem glatten schwarzen Eis der umpassierbaren Fußwege landen.
    In dieser furchtbaren Jahreszeit gibt es draußen so gut wie keine Lebenszeichen bis auf dick vermummte Menschen, die den pfeifenden arktischen Winden trotzen, und verzweifelte Tauben und Haussperlinge, Außerirdische europäischer Herkunft, die ihre Federn aufplustern, um sich warm zu halten, und auf der Suche nach den seltenen Stückchen Futter herumhüpfen. Raff fragte sich sogar: «Warum leben hier Menschen? Kennen sie keinen besseren Ort?»
    Raffs Begeisterung in der ersten Zeit nach seiner Ankunft an den trügerisch heiteren Herbsttagen wurde baldschon von dem nagenden Gefühl der Entfremdung eingeholt. Das sollte er nie mehr loswerden; immer würde er sich als Außenseiter fühlen. Mit der Zeit lernte er freilich, dass in Harvard
jeder
ein Außenseiter war oder sich zumindest eine Zeitlang als solcher fühlte. Wie ein Strudel ergoss sich der reißende Strom Harvard rings um Raffs neuen Lebensmittelpunkt, die grauen Steingebäude der juristischen Fakultät. Seinen Studien kurzzeitig Adieu zu sagen, um von diesem Strom zu kosten, glich dem Versuch, Wasser aus einem Feuerwehrschlauch zu trinken. Die Bataillone kluger Menschen und die Meinungen, die sie vertraten, trugen zur Desorientierung bei. Die meisten Studenten waren, bevor sie hierherkamen, schon für ihre Leistungen ausgezeichnet worden. Viele der unteren Semester waren mit Bestnote von ihrer Schule abgegangen. Bei den Graduierten war die Mitgliedschaft im Phi Beta Kappa die Regel. Im Königreich Harvard waren kluge Gedanken die Währung, und der Wettkampf, in dem seine Besten darum stritten, den Gedanken Gehör zu verschaffen, war beängstigend.
    Vor seiner Reise in den Norden hatte Raff sich mit der Hoffnung getröstet, dass Harvard zwar quantitativ ganz anders als die Florida State University, im Grunde aber dasselbe wäre. Harvard, dachte er, wäre eben nur eine gedopte Version der FSU. Doch bald schon erkannte er eine ganz andere wichtige Wahrheit. Jedes organisierte System, egal ob Universität, Stadt oder eine beliebige Gruppierung von Organismen, das zu ausreichender Größe und zu einer genügend differenzierten Population heranwächst und dem genügend Zeit zur Weiterentwicklung zur Verfügung steht, beginnt sich auch
qualitativ
auszudifferenzieren. Die Ursache ist grundsätzlicher Natur:Je mehr einzelne Teile untereinander interagieren, desto mehr neue Phänomene treten innerhalb der Gruppe auf, desto mehr Überraschungen erleben daher Studenten und Lehrer Tag für Tag, und desto seltsamer und interessanter wird die Welt als Ganzes. Genau dasselbe gilt auch für Ameisenkolonien verschiedener Arten, hatte ihm schon Bill Needham an der Florida State University erklärt. Große Kolonien, wie die in den Ameisenhügeln vom Nokobee, praktizierten eine hoch komplexe Arbeitsteilung, und ihre Königinnen waren sehr viel größer als die Arbeiterinnen und unterschieden sich in ihrem Körperbau stärker von ihnen.
    Ein solches Phänomen, das diesem großen Urprinzip vollständig entsprach, war, wie Raff auf dem Campus bald erfahren sollte, die Gaia Force, eine radikale studentische Umweltbewegung. Eine Anzeige in Harvards Studentenzeitung, dem
Crimson
, lud zum ersten Treffen des Wintersemesters ein.
    GAIA FORCE
Meeting im Gemeinschaftsraum im Lowell House am
Mittwoch, 25. September, um 20:00. Die Gaia Force,
eine demokratisch organisierte Gruppe
engagierter Studenten, diskutiert zum Thema:
NATUR ZUERST! ZUM WOHLE DER MENSCHHEIT!
    Der Junge aus Alabama fand, das könnte zu ihm passen. Irgendwie war er ja ein Umweltradikaler – so ein bisschen; zumindest in Mobile war er es.
    Eine zusätzliche und gänzlich unerwartete Anziehungskraft innerhalb von Gaia Force übte auf Raff bei seinem ersten Auftreten im Lowell House eine gewisseJoLane Simpson aus, eine brillante Sozialwissenschaftlerin im zweiten Studienjahr, die ausgerechnet aus Fayetteville, Arkansas, stammte. JoLanes Vater war Prediger bei der Assembly of Jesus Christ Church, einer evangelikalen Kirche, die vor Ort eine gewisse Berühmtheit besaß, weil sie einen Kreuzzug gegen Atheismus, Homosexualität, Evolutionstheorie, Abtreibung, Sozialismus und die

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