Ameisenroman
Vergleich zu allem, was er sich jemals ausgemalt hatte. Die jungen Damen, die er an der FSU kannte, waren im Grunde sehr bescheiden gewesen, und obendrein monogam. Sexualität behielten sie einem oder nur sehr wenigen Partnern vor, und sie sollte zu einer Ehe führen oder wenigstens zu einer euphemistisch sogenannten festen Freundschaft – jedenfalls zur Liebe ihres Lebens. Raff hatte dieselbe Vorstellung von einer Beziehung.
JoLane dagegen gedachte, dem Sex jegliches Vergnügen abzuringen, das er zu bieten hatte. Ihre experimentelle, tabulose Haltung entsprang einem radikalen Feminismus. Es war weniger ungehemmtes körperliches Begehren als ein politisches Statement. Mit dem Segen ihrer Ideologie riss sie auch nur die Vorstellung von irgendwelchen Grenzen nieder. Ihr Umgang mit dem Sexwar so selbstverständlich, als schenkte sie sich eine Tasse Morgenkaffee ein. Sie brannte von einer Wildheit, als sie jede Stellung ausprobierte, sich über jede Körperöffnung hermachte.
JoLane führte Raff über die Grenzen seiner eigenen Phantasien hinaus. Sie war Lilith, Aphrodite, eine Naturgewalt. Er konnte ihr Abenteuer unmöglich in seine von Logik beherrschte Weltsicht einordnen. Als ganz gewöhnlicher junger Mann ließ er sich gehen und machte bei JoLanes Freistil-Experimenten mit, egal, wohin sie ihn am Ende führen mochten.
Eine Affäre in einer Eliteuniversität wie Harvard ist, völlig unabhängig vom Ausmaß der sexuellen Energie, wie keine andere. Raff und JoLane ließen sich glücklich in dem großartigen hyperintelligenten Ameisenhügel umhertreiben, bahnten sich einen Weg durch das ständig sich wandelnde Labyrinth von Vorträgen, Blockseminaren, Meetings mit getrennten und gemeinsamen Freunden, und wann immer sie ein oder zwei Stunden Intimität oder auch nur Halb-Intimität fanden, überließen sie sich bis zur Erschöpfung ihren Liebesspielen.
Beide entdeckten mit wachsender Befriedigung einen neuen Reiz am Leben in Harvard und dem nahen Cambridge. Während eines Vortrags eines Richters am Obersten Gerichtshof über «Verfassung und Internationale Verhandlungen» in der juristischen Fakultät begann sie zu kichern, und er brachte sie zum Schweigen. Sie verbrachten eine Stunde im Fogg Art Museum vor Rembrandt-Skizzen und byzantinischen Ikonen. Raff dachte zwar an den Sex, der danach kommen würde, aber er nahm sich auch vor, sich mit Kunstgeschichte zu beschäftigen, wenn er einmal Zeit dazu fände – ein Vorsatz, der,so wusste er, am nächsten Tag schon wieder vergessen sein würde.
Das Paar widmete zwei Stunden einem Konzert mit atonaler Musik. Raff begriff nichts davon, aber alle anderen einschließlich JoLane schienen es zu verstehen, also behielt er hinterher sein Unbehagen für sich. Händchen haltend saßen sie in einem Vortrag im Science Center A, bei dem ein namhafter, aber unverständlicher Professor der Universität Peking über «Ursprung und Phylogenese der Samenpflanzen: Die Lüftung eines Geheimnisses» sprach. Sie nahmen an einer Kundgebung für die Befreiung von Birma teil und fragten sich später, was die Militärjunta eigentlich mit dem Regenwald anstellte. Beide zermarterten sich den Kopf über das Attentat vom 11. September, aber gleichzeitig hofften sie, das afghanische Volk müsse nicht über Gebühr leiden. Gemeinsam kosteten sie in einem kleinen Restaurant hinter dem Harvard Square die äthiopische Küche, aber für beide sollte es das erste und das letzte Mal sein.
Über die Harvard’schen Exzentrizitäten um sie herum lachten sie. Über Besuche von Professoren der Universität Oxford, die reinstes Oxford-Englisch sprachen und in der
New York Review of Books
publizierten, und über amerikanische Professoren, die ebenfalls Oxford-Englisch sprachen, aber in der
London Review of Books
publizierten. Über die erzwungene Begeisterung der offiziellen
Harvard Gazette
für das Football-Team ihrer Uni. Über die seltenen Harvard-Studenten, die das Wappen von Harvard auf Sweatshirts und Jacken trugen, und die vielen, die in einer Art negativer Snobismus Abzeichen der Georgia Tech University oder des Slippery Rock College bevorzugten.
Es ärgerte Raff ein bisschen, dass bis auf JoLane niemand, dem er begegnete, jemals von Admiral Raphael Semmes gehört hatte, und auch sie nur ungefähr und geringschätzig. Dieser Stich gegen sein Selbstbewusstsein war aber in der magischen Atmosphäre der Harvard Law School bald vergessen. Gegen Ende des ersten Semesters hatte er neue Freunde und die sich
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