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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Staatsbesuchen die betreffende Flagge neben der von Harvard hängt, die auf purpurrotem Grund das Motto VE-RI-TAS trägt. Hinter der University Hall liegt dann die offene Fläche des sogenannten Tercentenary Theatre und daneben wiederum links die MemorialChurch und weiter hinten die Sever Hall sowie die Emerson Hall, beides Lieblingsplätze großer Prediger und Philosophen, und rechts die imposante Widener Library, die Stiftung einer vermögenden Familie zum Gedächtnis an ihren Sprössling, der an Bord der
Titanic
umgekommen war. Die Bibliothek, Treffpunkt aller Studenten und einiger der größten Gelehrten der Welt, ist außerdem der Ort, wo ein Dieb, der die Gutenberg-Bibel aus dem Besitz von Harvard entwenden wollte, sich bei seinem Sturz aus dem Fenster schwer verletzt hatte. Auf den zahllosen Stufen vor der Bibliothek saßen viele der 24.000 Studenten, die immer im Juni zur Entlassungsfeier ins Tercentenary Theatre strömten. Bei dieser Zeremonie werden stets bis zu zehn Berühmtheiten Ehrendoktortitel verliehen. Wer sie jeweils erhält, bleibt geheim bis zu dem Bankett, das am Vorabend der Verleihung mit Hunderten Gästen in der höhlenartigen Memorial Hall abgehalten wird; die wiederum war 1872 zu Ehren der Harvard-Angehörigen erbaut worden, die im Bürgerkrieg umgekommen waren – freilich nur für Tote unter den Unionisten, stellte Raff fest, nicht etwa unter den Konföderierten. Entlang des viktorianischen Gebäudes, in dessen Uhrenturm früher Wanderfalken nisteten, bevor die Art aufgrund der Vergiftung durch Pestizide so gut wie ausgerottet wurde, geht es südöstlich zu einigen der großartigsten Kunstmuseen Amerikas, und westlich zu dem hoch aufgetürmten Science Center, der modernen Variante eines babylonischen Turms, die mit imperialer Geste der naturwissenschaftlichen Ausbildung der unteren Semester gewidmet ist. Nur einen Block nordöstlich der Memorial Hall steht ein noch höher aufragender Wolkenkratzer, die William James Hall, in der die Sozialwissenschaften untergebrachtsind; diese Gegend sollte man im Winter meiden wegen der stürmischen arktischen Winde, die dort herumfegen, da die Form und der isolierte Standort des Gebäudes unbeabsichtigt einen umgedrehten Windkanal geschaffen haben. Nordwärts entlang der Divinity Avenue und der Oxford Street kommen die Gebäude und das rege Treiben der gemeinhin so genannten Science City, neben den Glaspalästen der Molekular- und Zellbiologie nimmt sich die historische Divinity Hall, Heimat großer Denker des neunzehnten Jahrhunderts, zwergenhaft und gedrängt aus und sticht doch ihrerseits andere altehrwürdige Gebäude, die meisten davon aus Holz, aus, die die weltweit größte Privatsammlung von Pflanzen und Tieren beherbergen. Im Museum für Vergleichende Zoologie befinden sich ein drei Meter langes Moa-Skelett aus Neuseeland, zwei der weltweit 32 bekannten Exemplare des Riesenalks, die größte fossile Schildkröte der Welt, das Referenzexemplar einer neuen Vogelart, die Lewis und Clark bei ihrer Landexpedition an den Pazifik entdeckt hatten, und über fünf Millionen sorgfältig präparierter Insektenarten aus der ganzen Welt. Am Ende schließlich, noch weiter nordöstlich am metaphorischen und buchstäblichen Rand der Universität, steht abgelegen und gelassen ein Gebäude, das aussieht wie eine zerdrückte Kathedrale, die Divinity School mit ihren herrlichen Buchbeständen, von den Skeptikern unter den benachbarten Wissenschaftlern gelegentlich als Bibliothek des offenbarten Wissens bezeichnet.
    Alles in allem war Harvard ein menschlicher Ameisenhügel, ein Kaleidoskop von Spezialisten, deren Leben so ausgerichtet ist, dass sie ihr eigenes Wohlbefinden durch den Dienst am großen Ganzen erlangen. Am störendstenempfand das Kind der Golfküste den langen und grausam harten Winter. Ganze vier Monate im Jahr, wenn es jeden Abend über Neuengland früh dunkel wird, wird die Region regelmäßig von zyklonartigen Nordostwinden heimgesucht. Die Stürme ziehen an der Atlantikküste nordwärts und peitschen drei Tage lang auf Neuengland ein. Zu Anfang sind sie mit relativ milder feuchter Luft gesättigt und laden schweren Regen, Graupel und Schnee ab, das Ganze unter heftigen Winden. Boston, so stellte sich heraus, war eine der drei windreichsten Städte der USA. Die Nordostwinde ziehen danach auf den Nordatlantik hinaus und wälzen dabei arktische Luftmassen auf die unglücklichen Bewohner. Am ersten Tag sind die Straßen und Fußwege in Cambridge voll

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