Ameisenroman
gottlose Wissenschaft führte. JoLane verdankte ihre Aufnahme nach Harvard einer Schullaufbahn, die nur aus Bestnoten bestand, und am Ende ihres ersten Studienjahres hatte sie sich um 180 Grad von den Grundsätzen ihres Vaters abgewendet. Sie hatte ihre brav christliche Erziehung hinter sich gelassen und ihr Magnolienschwert zu einer Speerspitze sozialistischer Revolutionskraft umgeschmiedet. Sie siedelte sich politisch so weit links an, wie es eben noch möglich war, ohne als verrückt zu gelten – und das selbst bei den lockeren Maßstäben in Harvard.
Während sie aber zur Revolution gegen ungerechte Herrschaftssysteme wie in Fayetteville und Cambridge aufrief, blieb JoLane Simpson noch immer die Tochter ihres Vaters, so strikt war ihre moralische Rigorosität und so geschliffen ihre Rhetorik. Es gab nicht ein problematisches Thema, zu dem sie keine dezidierte Meinung besaß. Ihr größter Eifer galt den Vergewaltigern der Umwelt, die sie in ihrem Heimatstaat ganz unverhohlen am Werk gesehen hatte.
JoLane erklärte, sie würde niemals zur Wahl gehen. Sie behauptete, kein Staatsmann, nicht einmal ihr Landsmann Bill Clinton, dessen Amtszeit als Präsident kürzlich zu Ende gegangen war, und auch nicht der heiliggesprochene grüne Präsidentschaftskandidat Ralph Nader, sei in der Lage, die Revolution auszulösen, die zur Rettung derMenschheit nötig war. Sie versuchte ihren Südstaaten-Akzent abzulegen, der in ihren Ohren nach Ignoranz und, schlimmer noch, politischem Konservatismus klang. Nur gelegentlich unterliefen ihr noch Formulierungen und Sprachfärbungen, die sie als Südstaatlerin stigmatisierten und sie zuverlässig erröten ließen.
Als Raff zur Sitzung der Gaia Force kam, schritt JoLane geradewegs auf ihn zu und stellte sich vor. Das war das Letzte, was eine wohlerzogene junge Dame aus Arkansas tun würde, und das Erste, was man von einer vollständig emanzipierten jungen Frau an einem Ort erwartete, der häufig Volksrepublik Cambridge genannt wurde.
«Hi, ich bin JoLane Simpson, und ich freue mich sehr, dass du heute zu unserem Meeting kommst.»
«Tja, danke, ma’am», erwiderte Raff mit seinem noch ungetrübten Alabama-Akzent, «ich interessiere mich für Umweltorganisationen.»
Ein Südstaatler, dachte JoLane. Sie packte Raff am Arm, besorgte ihm etwas zu trinken, führte ihn in eine Ecke des Raumes und verwickelte ihn schnell in ein lebhaftes Gespräch. Sie musste sich eingestehen, dass sie zwar jetzt eine Weltbürgerin war, die allen Völkern nahestand, aber noch immer für ein gelegentliches Aufwallen von Heimweh empfänglich war. Überhaupt studierte Raff Jura. Dieser Junge konnte sich für zukünftige Gaia-Aktivitäten politisch als nützlich erweisen. Die meisten übrigen Gaianer waren im zweiten Studienjahr in Englisch und Soziologie.
JoLane hielt Raff vom Rest der kleinen Versammlung fern, während sie sich über ihren jeweiligen Hintergrund und ihre Lebensauffassung austauschten. JoLane erfasste Raffs Qualitäten schnell und war zufrieden. Er warnicht nur ein gleichgesinnter Umweltschützer, sondern einer mit einer gut definierten Mission. Er war ein echter Ur-Südstaatler, und so antisüdstaatlerisch sie sich auch gerierte, so wohl tat ihr doch seine Art zu reden. Er war auch ein wenig älter, nicht leichtfertig aufbrausend, und er trug ein
Sakko
und eine
Krawatte.
Raff hatte ordentlich gekämmte Haare, und das Wichtigste war, dass er offen seine Zweifel an seinem eigenen episkopalen Glauben äußerte.
Kurz, Raff war das genaue Gegenteil der unreifen, Sweatshirts tragenden Kalifornier, die sich als harten Kern und streitbare Avantgarde der Gaia Force betrachteten. Er sah aus wie ein Leader, und vielleicht waren Leute wie er, dachte sie, das, was die Gruppe am dringendsten brauchte. Die anderen Mitglieder, meist Abkömmlinge der Neuen Linken aus den 1970er Jahren, betrachteten sich als Wächter des wahren Glaubens an die neue sozialistische Revolution, von deren Beginn sie unbeirrt ausgingen, sobald ein paar Fehlentwicklungen der letzten Zeit, etwa die Gräueltaten der Roten Khmer und die Errichtung der Berliner Mauer, ausgebügelt waren. Einstweilen waren Abweichungen von den Glaubensgrundsätzen strengstens verboten. Gemäß ihrer Ideologie rotierte der Vorsitz, Geschlechter und Minderheiten wurden turnusgemäß berücksichtigt, um die ideologische Reinheit zu wahren. In der Praxis hatte das kaum Auswirkungen, wie sich herausstellte – Entscheidungen traf die Gruppe ohnehin
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