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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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wollte sie aber eine Kuppelshow im Fernsehen anschauen. Wohlerzogen küsste sie ihre Tante Marcia auf die Wange, dann wandte sie sich gemäß dem sorgsam einstudierten Protokoll an Ainesley. «Mr. Cody, Sir, wir freuen uns alle, Sie und Scooter hier zu sehen. Wir wollen Sie alle bald wieder hier haben, ja?»
    Kurz darauf erhoben sich die Semmes und die Codys und gingen hinüber in die Bibliothek, um Kaffee zu trinken, normalen oder koffeinfreien, mit oder ohne Schikoree, und für Raphael gab es heiße Schokolade. Verschiedene Süßigkeiten aus Pekannüssen, die in Cyrus’ Pekanhain draußen bei Wilmer am Mississippi hergestellt wurden, wurden auf einem Tablett serviert. Raphael nahm sich eine reichliche Handvoll, steckte ein paar in die Tasche, um für künftige Überlebenssituationen vorzusorgen, und machte sich allein auf die Suche nach irgendwelchen Büchern über Urwaldabenteuer. Er stieß auf eine Ausgabe von William Beebes
Rancho Grande. Zwei Jahre im Nebelwald der Anden
und ließ sich zum Lesen in einen Polstersessel sinken.
    Die drei Frauen – Anne, Marcia und Charlotte – rückten ihre Stühle zusammen, um mit dem Familientratsch fortzufahren. Marcia war für diese Versammlung gut gerüstet. Als Juniorfachfrau in Sachen Semmes-Kunde teilte sie eifrig aus dem Vorrat an Geschichten aus, den sieam selben Nachmittag bei ihrer Tante Jessica eingefahren hatte.
    So blieb Cyrus und Ainesley keine andere Wahl, als es miteinander aufzunehmen. Angesichts ihres ganz unterschiedlichen Hintergrunds und der beständigen Sorge der Semmes aus Mobile um die Zukunft von Marcia und Raff bestand eine unvermeidliche Spannung zwischen den beiden Männern. Aber eigentlich kamen sie ganz gut miteinander aus. Sie brauchten keinen Souffleur, keine Gedächtnisstütze in Form eines Wortes oder eines Codes. Instinktiv war ihnen beiden klar, dass sie eine gemeinsame Basis jenseits aller Themen oder Sprachformen finden mussten, die mit einem privilegierten Milieu assoziiert wurden. So sprang das Gespräch von der Rotwildjagd, die in dieser Saison ganz gut lief und ein Revival der Jagd mit Pfeil und Bogen erlebte, zur Fischerei von Red Snappers vor Dauphin Island, in letzter Zeit nicht so besonders, und weiter zum Ärger zwischen den vietnamesischen und den einheimischen Krabbenfischern im Golf vor Pascagoula. Ainesley verfügte auf diesen Gebieten über solide Kenntnisse, und er plauderte gewandt, fügte auch hinzu, dass sie seiner Meinung nach ja zu viele von diesen Asiaten ins Land ließen.
    Am späten Abend hatte sich ein angenehmer Frieden über Marybelle gelegt. Die Gespräche in der Bibliothek verebbten zu Geflüster und leisem Gelächter, alte Familiengeschichten wurden aufgewärmt. Ainesley gestand sich ein, dass Cyrus ein «feiner Kerl» war, was hier im Süden bedeutete, ein solider Mann, der rechtschaffen und erfolgreich war. Und Cyrus wiederum befand Ainesley als verantwortungsvoll und arbeitsam, was ihn durchaus ehrenwert machte, und er wünschte ihm nur das Beste.Und damit nicht zuletzt auch das Beste für sein eigenes Blut im Hause Cody.
    Ainesley lag mit seiner Einschätzung nicht falsch. Cyrus Semmes mit seinen zweiundvierzig Jahren führte ein Leben, das die meisten als vorbildhaft bezeichnen würden. Er war zehn Jahre älter als seine Schwester Marcia und hatte schon früh die traditionelle Rolle des Erstgeborenen übernommen. Ainesley war beeindruckt gewesen, dass Cyrus heute am Esstisch den Vorsitz übernommen hatte, während sein greiser Vater an seiner Seite saß.
    Cyrus war körperlich nicht sehr imposant. Er war kaum ein oder zwei Zentimeter größer als der feingliedrige Ainesley, von Natur aus untersetzt, und begann Speck anzusetzen, so dass die Knöpfe seiner Hemden neben dem Monogramm zu spannen anfingen. Auch gut aussehend im verbreiteten Sinn war er kaum. Er hatte dünne Lippen, die sich gern noch weiter zusammenzogen, wenn er in Gedanken war, schlaffe Augenlider und dünnes schwarzes Haar, das auf seiner Stirn schon deutlich zurückgetreten war. Gerne kaute er auf Bleistiften und kratzte sich am Kinn. Lachen sah man ihn nur selten. Meistens kicherte er nur, und auch das nur kurz, mit leichtem Kopfnicken. Cyrus’ Lächeln war nie strahlend; meist kam es beim Gruß oder als Anerkennung, und auch dann nur flüchtig. Trotzdem war er ein geschliffener Gesprächspartner, vor allem zuhören konnte er sehr gut. In sanfter, freundlicher Ruhe konzentrierte er sich auf den anderen und hörte einfach zu. Das

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