Ameisenroman
entspannte jedes Gegenüber. Andererseits war sein Gedächtnis für Einzelheiten geradezu beängstigend. Eine zweistündige Geschäftsbesprechung konnte er in wenigen Sätzen zusammenfassen, als würde er sie aus einem Protokoll vorlesen.Er sprach in ganzen Sätzen, so wie einer, der sich nicht gerne unterbrechen lässt.
Als Student an der University of Alabama hatte Cyrus vom Herbst 1967 an den vollständigen Lehrgang des Ausbildungskorps für Reserveoffiziere durchlaufen. Nach seinem Abschluss hatte er drei Jahre als Unterleutnant, dann als Leutnant in der Infanterie gedient, ein halbes Jahr auch in Vietnam. Nur selten sprach er von diesem Lebensabschnitt, aber am Veterans Day und am 4. Juli trug er am Revers das dreifarbige Band des Bronze Star. Nie hatte er den Vietnamkrieg bereut, nur die Art, in der er geführt und verloren wurde.
Nach seiner Rückkehr aus Vietnam wurde Cyrus Mitglied der juristischen Fakultät der University of Alabama. Anschließend stieg er in das Maklerbüro seines Vaters ein. Bald begann er behutsam, die Gesellschaft junger Damen zu suchen, und nach einem Jahr traf er Anne, eine attraktive junge Frau von bestem Ruf und aus gutem Hause – die Baldwins aus Mobile und Montgomery zählten zu ihren Ahnen einen Gouverneur Baldwin in den 1890er Jahren und einen Colonel Baldwin im Ersten Weltkrieg.
Cyrus und Anne heirateten sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung. Dem
Mobile News Register
war das Ereignis eine Schlagzeile auf der Gesellschaftsseite wert. Nach Jonathans erstem Herzinfarkt übernahm Cyrus die Firma als leitender Geschäftsführer. Innerhalb eines Jahres machte er sich einen Namen, indem er die Semmes Gulf Associates gründete, ein Consulting- und Investment-Büro, das auf Expansion im Südstaatengürtel von Florida bis Louisiana setzte. In den Achtzigern erlebte der Süden ein rapides Wirtschaftswachstum, und dieSemmes Gulf Associates schwamm auf dieser Welle mit nach oben.
Als aufstrebender junger konservativer Republikaner und kirchentreuer Episkopaler, und nicht zuletzt als dekorierter Kriegsveteran, wurde Cyrus Semmes gelegentlich als möglicher künftiger Gouverneur von Alabama gehandelt. Dieses Gemunkel schmeichelte ihm, aber solche Bestrebungen lagen ihm fern. Seine gesamte Aufmerksamkeit widmete er der Semmes Gulf Associates.
Mit fortschreitendem Abend verebbten die Gespräche, es kam zu Pausen und nur geflüsterten Bemerkungen mit zustimmendem Kopfnicken. Cyrus wusste, wie man den Abend beendete. Er spähte auf seine Uhr, eine Minute später noch einmal, und drehte dabei jedes Mal sachte sein Handgelenk.
Daraufhin erhob sich Ainesley und sagte: «Wir müssen dann mal. Muss morgen in aller Frühe wieder im Laden stehen, und Cyrus muss ja wohl auch in Form sein.»
«Nun ja», ergänzte Marcia. «Sehr schade, dass wir gehen müssen, aber ich will auf keinen Fall, dass Scooter womöglich zu spät zur Schule kommt.»
«Ja, ist noch eine ziemliche Fahrt für den Sonntagabend», meinte Ainesley. «Fast den halben Weg bis Clayville ist dichter Verkehr.»
Auf dem Heimweg stellte Marcia fest, dass Ainesley beim Fahren leicht schlingerte. Beim Essen waren zu den drei Bier, die ihn beim Zwischenstopp bei Tante Jessica gestärkt hatten, noch mehrere Gläser des guten Napa Valley und ein Gläschen Cointreau dazugekommen. Mehrmals geriet Ainesley mit dem Pickup über die Mittellinie und riss dann plötzlich das Lenkrad herum, um wieder auf seine Spur zu kommen.
Da überkam sie Verbitterung. Sie machte sich breit wie verschmutzte Luft. Jeder Besuch in Mobile, das wusste sie, ließ sie ihre bedauernswerte Lage nur noch bewusster wahrnehmen. Da wurde sie nun, Marcia Semmes von Marybelle, von einem Betrunkenen um ihr von Geburt an verbrieftes Recht auf Status und finanzielle Sicherheit gebracht und in einen Vierzimmer-Bungalow in einer trostlosen Kleinstadt verfrachtet. Und aller Wahrscheinlichkeit nach würde so ihr ganzes künftiges Leben aussehen. In einem katastrophalen Spielzug hatte sie mit ihrer Heirat alle Vorteile, die sie in der Hand hatte, gegen eine ärmliche Welt mit wenigen Möglichkeiten eingetauscht.
Es lag Marcia nicht, sich aus einer solchen Sackgasse herauszukämpfen oder aber nach einem erfüllteren Leben zu suchen, indem sie sich an die veränderten Umstände anpasste. Doch obwohl sie eine passive Frau war, der Erfindungsgabe und Kampfeslust fernlagen, hatte sie noch eine letzte Hoffnung, einen letzten Zugriff auf ihre Vergangenheit. Sie hatte den kleinen
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