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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Raphael, der da neben ihr in der Fahrerkabine des Pickups eingezwängt saß, ein waschechter Semmes und unbestechlicher Zeuge ihrer wahren Identität. Als sie wieder aufsah, um den Blick über die entgegenkommenden Scheinwerfer schweifen zu lassen, schickte sie ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass ihr Sohn ihr Geburtsrecht irgendwie wiederherstellen möge.

7

    W as Ainesley sah, als er Marcia vor über zehn Jahren im Restaurant FloraBama zum ersten Mal begegnete, war eine hübsche Einundzwanzigjährige, klein, fast schon winzig, mit den blauen Augen ihres Vaters und der Ernsthaftigkeit eines jungen Mädchens. Sie lächelte schnell und herzlich, allerdings nur, wenn man selbst es war, der sie ansprach. Von Natur aus war sie eher schüchtern, und ihre behütete Kindheit hatte sie darin noch bestärkt.
    Marcia war zwei Jahre lang auf die Hartfield Academy gegangen, ein elitäres Mädchenpensionat in Hattiesburg, eine kurze Autofahrt von Mobile über die Grenze nach Mississippi hinüber. Der soliden Erziehung dort verdankte sie einwandfreie Manieren, und ihr Wissen über Tischarrangements und gesellschaftliche Etikette war von nahezu professioneller Gründlichkeit. Sie war ein getreues Abbild ihrer Heimat und ihres Milieus. Die ‹Old Rich› sind höflicher als andere. Südstaatler sind höflicher als Leute aus anderen Gegenden. Mithin haben die ‹Old Rich› aus dem Süden die kultiviertesten Umgangsformen der gesamten USA. Außerdem sind sie ungemein stolz – man weiß, dass südländische Gentlemen und Möchtegern-Gentlemen sowohl die besten Manieren als auch die bestbestückten Waffenschränke haben.
    Als Marcia Ainesley begegnete, war sie im dritten Jahram Spring Hill College, einem kleinen katholischen allgemeinbildenden College von gutem Ruf. Der Campus lag fußläufig von Marybelle, der Weg war überwiegend gesäumt von Virginia-Eichen und idyllischen Gärten, die ausreichend gepflegt waren, um es regelmäßig in die Rubrik ‹Haus und Garten› der Sonntagsausgabe des
Sunday News Register
zu schaffen.
    Ihr soziales Umfeld in Spring Hill hatte freilich fast vollständig aus anderen jungen Mädchen bestanden, die noch keinen festen Freund hatten. Marcia war von Natur aus sowie durch ihre Erziehung diszipliniert und folgsam, und so bekam sie als pflichtbewusste Studentin fast immer die besten Noten. Zwar war sie für Kunst und Musik nur mäßig begabt, zeigte dafür aber eine besondere intellektuelle Begeisterung für die amerikanische Geschichte. Ihre Eltern, Jonathan und Elizabeth, waren mehr als nur erfreut darüber, dass sie von klein auf von den Geschichten aus der weit verzweigten Familie Semmes fasziniert war, den Semmes aus Mobile und denen aus dem gesamten Süden, und das in dieser Reihenfolge. Als Jugendliche hatte sie einmal drei Nachmittage lang Tante Jessica befragt, weil sie einen Aufsatz über den Stammbaum der Semmes vor dem Bürgerkrieg verfassen wollte.
    Als sie Mitte der 1970er Jahre erwachsen wurde, hatte sich die große soziale Revolution in den USA bereits bis in den Süden ausgebreitet. Sie hatte Mobile erreicht und die Fakultät und die Studenten von Spring Hill vollständig erfasst – allerdings ohne BH-Verbrennungen und Cafeteria-Sit-ins. Frauen traute man zunehmend berufliche und finanzielle Gleichberechtigung mit Männern zu. Weder Marcia noch ihre Eltern aber legten besonderenWert darauf, dass sie nun Wege einschlug, die sich ihr damit neuerdings öffneten. Sie war zur Südstaaten-Lady erzogen worden. Ihre Vorstellung von einem gelungenen Leben entsprach dem ‹Old South›: weiße Frauen der Mittel- und Oberschicht als gewandte Hausfrauen und die Männer als Versorger.
    Die bevorzugten Betätigungsfelder der besten Familien waren Jura, Medizin sowie das Militär, und das Ansehen des Einzelnen entsprach dem jeweiligen Rang, Einkommen oder beidem. Umso besser war es, wenn ein erfolgreicher älterer Sohn die Leitung des Familienunternehmens übernahm. Ein Gewerbe zu betreiben war akzeptabel, besonders natürlich in einem familieneigenen Unternehmen. Auch eine politische Karriere war akzeptabel, sofern sie auf ausreichend hohem Niveau stattfand. Kongressabgeordneter, Senator oder Gouverneur war ausgezeichnet. Bürgermeister war hinnehmbar, wenn es um eine gebührend große Stadt ging, vorzugsweise begleitet von der Mitgliedschaft im Cosmopolitan Club oder einem gleichwertigen Eliteverband.
    Marcias Erwartungen an ihren eigenen künftigen Platz in der Gesellschaft waren sehr hoch.

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