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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Zumindest kam es ihr niemals in den Sinn, dass sie eines Tages in die verschlungenen Winkel des Proletariats absteigen könnte. Sie war selbst Zeugin der großen Veränderung gewesen, die noch immer durch den Süden fegte. Aus ihrem Geschichtsstudium wusste sie genau, wie die Gegend sich aus der Armut emporgearbeitet und schließlich während des Zweiten Weltkriegs mit dem modernen Amerika gleichgezogen hatte.
    Marcia war sich der Veränderungen in ihrem unmittelbaren Umfeld vollkommen bewusst. Sie hatte zugesehen,wie die stadtauswärts gelegenen Hauptstraßen zunehmend von Ladenketten gesäumt wurden, so dass die Vororte von Mobile zu nichts anderem wurden als zu Schönwetter-Varianten der Außenbezirke von beispielsweise Pittsburgh und Indianapolis. Der ländliche Süden hatte sich außerdem durch die Beherrschung der Krankheiten verändert. Nur selten hörte man noch von Hakenwurm, Pellagra oder Ruhr, den früheren Plagen der armen Landbevölkerung.
    Marcias Eltern erinnerten sich noch an die Schilder mit der Aufschrift ‹White Only› an Trinkbrunnen. Sie konnten erzählen, wann Fast-food-Restaurants nach und nach die «Cafés» verdrängt und wann Gewerbegebiete die innerstädtischen Groschenkaufhäuser vertrieben hatten. Als ihre eigenen Eltern jung waren, sahen sie, wie sich auf den Ausfallstraßen samstags morgens die Maultierkarren drängten, mit denen weiße und schwarze Teilpächter ihre Ware zum Markt brachten. Heute fuhren da Autos und Lkws, in denen Angestellte mit Schecks und Kreditkarten sich auf die Suche nach den günstigsten Satellitenschüsseln machten.
    Das Wahlvolk von Alabama, heute einer der politisch konservativsten Staaten, war in nur einer Generation von den populistischen Demokraten in der Nachfolge Roosevelts zu den klar rechten Republikanern umgeschwenkt. Marcia war den Anblick von Aufklebern auf der Stoßstange gewohnt, die erklärten: «God, Guts, and Guns made America, Let’s Keep All Three» (Gott, Mumm und Waffen schufen Amerika – bewahren wir sie alle drei). Auf einer Seite der Stoßstange. Auf der anderen Seite konnte ein Aufkleber stehen mit «So many Pedestrians, so little time» oder «Don’t like my driving? Call 1-800-eat-shit».
    Doch auch diese Pöbeleien nahmen ab. Neue Häuser in den besten Vierteln von Mobile und jenseits der Bucht im Schöngeister-Klüngel von Fairhope konnten genauso gut von einem Neurochirurgen von der Stanford University oder einem Architekten aus Chicago bezogen werden wie von einem Sprössling des alten Geldadels. Sie ließen sich dort nieder, und ihre Gesinnungsgenossen aus Süd-Alabama taten es ihnen gleich. Alle waren sie gern gesehen. Sie waren die Speerspitze des Neuen Südens.
    Dabei blieben ererbte Rechte und ihre Aura trotzdem bestehen. Marcia und ihre Eltern sowie viele ihrer Klassengenossen strahlten weiterhin ein gewisses Maß an Vorbürgerkriegsherrlichkeit aus, die an die Drei Grazien des aristokratischen Südens erinnerte. Die erste waren die Sippe und das Geld; die zweite eine elegante Lebensweise in geräumigen Häusern inmitten von prächtigen Gärten voller großartiger Blumen, wobei die uralte Inneneinrichtung selbstverständlich ererbt und nicht selbst erworben war; die dritte Grazie hingegen trug den grauen Drillich der Konföderierten. Was diesen letzten Punkt betraf, so war es dem Andenken an die Vorfahren förderlich, wenn diese Offiziere gewesen waren. Wo immer das glücklicherweise der Fall war, hingen in der Bibliothek oder in der Eingangshalle Porträts von ihnen. Ein General war ein Schatz für die Ewigkeit, Offiziere niedrigeren Ranges waren immerhin akzeptabel, wogegen einfache Rekruten am besten nur als Einsprengsel im abendlichen Geplauder nach der Mahlzeit dienten.
    Marcia Semmes war eine moderne junge Frau, aber ihre Wurzeln lagen in einer Geisterstadt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wenn man in dieser Gesellschaft akzeptiert wurde, erzählten einem die Leute mit Vorliebeihre Familiengeschichte. Mehr als in jeder anderen amerikanischen Subkultur pflegte man hier das Gespräch über die eigenen «Leute» – die Vorfahren jenseits von drei Generationen, insbesondere Kriegsteilnehmer, bis zurück, falls der Stammbaum das hergab, zu den englischsprachigen Pionieren, die das Land zuerst besiedelt hatten. Und sie zeigten gerne ihre Häuser her, wenn sie nur weitläufig und großartig genug waren, und erst recht, wenn sie nicht von ihnen selbst erbaut worden waren, sondern vor langer, langer Zeit von ihren

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