Ameisenroman
oder so.»
Marcias Interesse war geweckt. Eigentlich klang er ja ganz nett und so, als wäre er wirklich, ehrlich interessiert an ihr. Sie sagte: «Oh, nein, nein, das geht schon. Ein paar Minuten sind schon in Ordnung.»
Zwei Wochenenden später, nachdem sie mehrmals telefoniert hatten und das jedes Mal länger und herzlicher, kam der angebliche Student der University of West Florida zu einer ersten Verabredung zu den Semmes nach Hause. Er fuhr einen neuen 1976er Chevrolet, auf den er am Vortag eine Anzahlung geleistet hatte. Er trug seine besten Klamotten. Seine Haare waren frisch geschnitten und gebürstet. In seiner Jackentasche steckten zwei Eintrittskarten zu einem Wettkampf im Bullenreiten im nahe gelegenen Chickasaw.
Ainesley bestaunte das prächtige Marybelle, die Kolonnaden, den weitläufigen Rasen und die kreisförmige Auffahrt. Als er aus dem Auto stieg und nach der Hausnummer suchte – ihm war nicht klar, dass große Häuser ihre Nummer nie aushängen –, stieß er stattdessen auf eine Bronzeplatte der Alabama Historical Society, die Marybelle als historische Stätte im Staat Alabama auswies.
Während Ainesley unruhig in der Eingangshalle wartete, bis Marcia die spiralförmige Treppe herunterkam, trat ihr Vater Jonathan aus der Bibliothek, um mit ihm zu reden.
«Ist Bullenreiten nicht eine etwas zu raue Sportart für eine junge Dame?»
Darauf war Ainesley vorbereitet.
«Ja, Sir, ich verstehe, was Sie meinen, Sir. Aber meiner Erfahrung nach sind die jungen Damen in meiner Bekanntschaft manchmal die Konzerte und solche Dinge etwas leid, und da ist so etwas doch einmal eine wirkliche Abwechslung für sie. Beim Bullenreiten kann man viel lernen.»
Jonathan verwirrte diese Antwort. Er öffnete den Mund, um weiter nachzuhaken, aber dann ließ er es dabei bewenden. Er hatte noch Unterlagen durchzusehen, und für den folgenden Tag stand in Montgomery eine wichtige Besprechung mit einem Ausschuss von Landessenatoren an.
In diesem Augenblick trat Marcia zu ihnen. Sie trug ein Cowgirl-Outfit aus Jeans, Halstuch und kurzen Stiefeln.
«O Daddy, ich bin so aufgeregt! Waren Sie schon einmal bei einem echten Rodeo?»
«Yessir», sagte Ainesley. «Bei einem ganz und gar echten.»
Was Marcia an Ainesley anzog, waren seine Lebhaftigkeit und sein Selbstvertrauen. Trotz seiner geringen Größe wirkte er stark und so, als könnte er sich von Mann zu Mann mit ihrem Vater unterhalten. An diesem Abend und auch später machte er Andeutungen auf ein paar düstere Kapitel in seiner Vergangenheit, über die er nicht sprechen wollte. Er erzählte Geschichten, die alle einen wahren Kern enthielten, auch wenn sie jemand anderem zugestoßen waren. Reich ausgeschmückt waren sie jedenfalls alle. Für Marcia war Ainesley ein Mann, der der jugendlichenUnreife ihrer Bekannten hoch überlegen war, und ein Mann mit tiefer, bedeutungsvoller Geschichte im Vergleich zu ihren eigenen mageren Erfahrungen. Er hatte Ziele, er hatte Pläne, und er hatte Beziehungen, die er gegenüber Marcia andeutete, aber nie offenlegte. Und ganz, wie er hoffte, versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, bei diesen Abenteuern an seiner Seite zu sein.
Die Rolle, die Ainesley da einnahm, war nicht völlig aufgesetzt. Es war eine Ansammlung von Geschichten und Posen, in deren Zentrum sein persönlicher heiliger Ehrenkodex stand. Der war unumstößlich: Seinen Verpflichtungen würde er immer nachkommen, wenn es nur irgend möglich war, und er würde niemals eine Lüge auftischen, die seiner Familie oder seinen Freunden schaden könnte. Nie würde er auf jemand anderen losgehen, es sei denn aus Notwehr, und bei einer Auseinandersetzung würde er niemals nachgeben, wenn er wusste, dass er im Recht war.
Wenn auch sonst Ainesleys Leben aus den Fugen geraten sollte, dieser Ehrenkodex würde bleiben. Er war die Definition seiner Männlichkeit und der sichere Anker für seinen Verstand.
Was Marcia, genauso wie ihren Eltern, an Ainesly unbegreiflich blieb, war, dass er in seiner speziellen Schicht der Welt, in der er lebte, ein ganz gewöhnlicher Mensch war und dass er sich durch eine Biografie arbeitete, die dazu bestens passte. Zu gegebener Zeit würde er einen Hausstand gründen, freilich nicht zu dem Zweck, den er sich vorstellte und den Semmes aus Mobile glaubhaft machen wollte. Ainesley besaß ein solides Selbstbewusstsein, aber er lebte von einem Tag zum anderen und wusste an jedem auch die Vergnügen zu schätzen, die seinerharrten. Er war keiner,
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