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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Ameisenbewohner, darunter auch die jetzt verschwundenen Kolonien der Trailheader und Streamsider, waren in früheren Jahren kaum wahrgenommen worden. Nur ganz wenige Leute,meist Kinder, blieben stehen und bewunderten die beträchtlichen, aber weit verstreuten Ameisenhügel. Jetzt sprang die verblüffende Superkolonie allen ins Auge. «Da draußen gibt es eine neue Ameisenart», waren sich alle einig, «schlimmer als die Feuerameisen.» Und manche fügten hinzu: «Da müsste man mal einen Kammerjäger hinschicken.»
    Die Superkolonie hatte ihre Umwelt bezwungen, ihre Rivalen und Feinde unterworfen, ihren Lebensraum vergrößert, neue Energiequellen aufgetan und die Produktion von Ameisenfleisch auf Rekordhöhe getrieben.
    Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass die Herrschaft der Superkolonie am Dead Owl Cove nicht von Dauer sein konnte. Der unaufhaltsame Gang der ökologischen Zeit ließ ihr nur wenige erfolgreiche Jahre. Indem sie die Nachhaltigkeit ihres Lebensraums gegen größere Ausbreitung eingetauscht hatten, hatten ihre Gene einen schlimmen Fehler begangen. Dafür musste gebüßt werden – zuerst bezahlte das Ökosystem, und da ihr Nachschubsystem wegbrach, dann die Superkolonie selbst. Die Superkolonie stand in diesem Sommer am Höhepunkt ihres Wachstums, doch ihre Lebensqualität nahm bereits ab. Sie schuldete der Natur die Rückerstattung von Verbindlichkeiten, die sich durch den Mehrverbrauch von Energie und Material angehäuft hatten; die Tilgung dieser Schuld ließ sich vielleicht eine Zeitlang aufschieben, besonders wenn die Superkolonie noch weiteres Territorium erschließen konnte – dann aber musste sie noch mehr und immer mehr erobern, um den Bestand zu wahren. Auch wenn die Arbeiterinnen auf dem besetzten Territorium neue Futterquellen auftun konnten, ließ sich die Schuld zurücksetzen. Doch auch dieses unwahrscheinlicheSzenario würde die Bevölkerungsdichte nur noch steigern, und damit stiege wiederum auch die Schuld, statt zu sinken.
    Die sich abzeichnende Krise der Superkolonie kam nicht überraschend. Jede Spezies vollführt einen Drahtseilakt durch die ökologische Zeit. Wenn sie erst unterwegs ist, gibt es nur einen Weg, um weiterzukommen, aber Tausende, um abzustürzen. So funktioniert die Evolution, und so funktioniert die Welt der Natur an sich. Die Instinkte, nach denen die Ameisenkolonie lebte, waren die, die in der Vergangenheit erfolgreich gewesen waren. Die Gene, die sie programmierten, waren in der Vergangenheit durch bestimmte Vorkommnisse selektiert worden. Weder die Instinkte noch die Gene aber konnten sich irgendwie für die Zukunft wappnen. Eine größere Umwälzung in der direkten Umwelt oder auch eine Mutation wie die in der Superkolonie konnte ganz schnell zur Katastrophe führen. Damit eine Art in einer bestimmten Umgebung auf unbestimmte Zeit weiter existieren konnte, brauchte sie Präzision und viel Glück.
    Die Superkolonie war bei ihrem Drahtseilakt abgestürzt. In diesem wesentlichen Punkt ähnelte sie dem großen menschlichen Ameisenhaufen über ihr und um sie herum. Das bevorstehende Ende lag in den Händen der wandelnden Baumgötter.

25

    A n einem wolkenlosen Nachmittag gegen Ende August bereiteten sich die Einwohner der Superkolonie, ohne etwas von der drohenden Gefahr zu ahnen, auf das größte Ereignis ihres Jahreszyklus vor. In Kürze sollte ein Paarungsschwarm stattfinden. Er bedeutete den Höhepunkt ihrer gesamten Aktivität, das Hauptziel ihrer Existenz als Kolonie. Nur durch ihn war das Überleben ihrer Art möglich. Jahreszeit und Wetter passten. Zwei Tage zuvor hatte ein Gewitter aus dem südwestlich liegenden Golf von Mexiko dem Lake Nokobee 50 Millimeter Regen beschert. An diesem Morgen war der Boden immer noch feucht, und die Pflanzen, die in der Sommerhitze schon verwelkt waren, hatten etwas von dem satten Grün des Frühlings wiedererlangt. Die Sonne wärmte die Erde des weitverzweigten Nests, und feuchte Luft lag schwer und reglos auf seiner Oberfläche.
    Am späten Vormittag löste eine biologische Uhr im Hirn der Superkolonie-Ameisen das Hochzeitsereignis aus. Zu Tausenden strömten Arbeiterinnen aus den Eingangslöchern. Sie verteilten sich an der Nestoberfläche und wuselten in aufgeregtem Chaos herum. In wenigen Minuten folgte ihnen eine Horde geflügelter jungfräulicher Königinnen und Männchen. Keines davon flog auf. Sie begannen sich sofort zu paaren. Auf jeder Jungkönigin hockten mehrere Männchen, sie drängten sich

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