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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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den sein Onkel auf einer Jagdtour im Moorland des Mobile-Tensaw-Deltas geschossen hatte. Das Tier starrte ihn aus seinem gelben Glasauge an.
    Raff dachte an Frogmans vier Meter zwanzig großen Old Ben im Chicobee River. Er flüsterte dem Reptil an der Wand zu: «Tut mir leid, dass du schon als Kind abgeschlachtet wurdest.»
    Als Raff aus dem mit Granit gefassten Eingangstor des Loding Buildings trat, suchte er die Bledsoe Street nach seinem Onkel ab und sah ihn bereits fünfzig Meter weiter unten eilig Richtung Stadtzentrum laufen. Er hatte keine Lust, ihm nachzurennen. Er spürte die Nachmittagssonne durch die schwüle Luft hindurch auf seiner Haut, und so ging er die enge Straße hinunter und stellte sich in den Schatten einer großen Magnolie. Als er zum zweiten Mal die Bledsoe Street hinuntersah, bemerkte er hinter dem Loding Building eine Reihe kleiner Häuser, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden und seitdem ständig von alten Familien aus Mobile bewohnt waren. An jedem hing neben der Eingangstür ein kleines Schild, auf dem die historische Bedeutung des Hauses dargestellt wurde. Raff ging hin, um sich neben dem ersten Haus auf einer schattigen Bank niederzulassen.
    Gerade als er sich setzen wollte, hörte er über seinem Kopf ein Keckern. Er sah auf und entdeckte ein Eichhörnchen auf der Telefonleitung, die die Straße kreuzte; es balancierte wie ein Seiltänzer und versuchte, sich zu einer Baumkrone auf der anderen Straßenseite vorzuarbeiten. Aus dem dichten Blattwerk dort kam dasselbe Keckern eines anderen Eichhörnchens. Raff konzentrierte sich auf die beiden Tiere. Was ging da gerade vor sich?
    Sofort fiel ihm ein: das Territorium! Die beiden Eichhörnchen fochten einen Revierkampf aus. Raff kannte dieses Geräusch aus dem Nokobee Tract. Das Eichhörnchen auf dem Kabel war der Eindringling, das in der Baumkrone der Verteidiger. Raff stand von der Bank auf, um genauer hinzusehen, und im Kopf stellte er eine Verbindung zu dem Gespräch her, das er gerade mit Cyrus geführt hatte. Der Besitz des Landes, die Macht und dieSicherheit, die damit verbunden waren: genau darum drehten sich die Eichhörnchenkämpfe. Und die Zyklen der Ameisenkolonien. Genau das hatte ihm Cyrus Semmes auch sagen wollen, allerdings in einer tragischen Wendung: So funktioniert die Welt.
    Reservate wie der Nokobee hatten keine Fürsprecher. Ihre Bewohner stießen keine Drohlaute aus, um ihre Feinde in Schach zu halten. Das Land fiel den Investoren kampflos in die Hände. Wenn aber das gefährdete Leben dort selbst stumm blieb, wer würde dann zu seiner Verteidigung die Stimme erheben? Raff begann wieder Richtung Stadtzentrum zu laufen. Jetzt endlich wusste er, wohin er wollte und was zu tun war.

29

    E r erreichte das fünfstöckige Bürogebäude des
Mobile News Register
und betrat die grün ausgekleidete Lobby. Mit dem Auge des Biologen, der einen neuen Lebensraum inspiziert, blickte er sich um und orientierte sich, bevor er weiterging. Am hinteren Ende des Raumes standen in einer Glasvitrine zwei Reihen Plaketten und Statuen. Links an derselben Wand hing eine gerahmte Titelseite des
Mobile News Register,
die bräunlich vergilbt war; «NAZIS FALLEN IN POLEN EIN», lautete die Schlagzeile. Daneben prangte in einem identischen Rahmen die Meldung: «JAPAN KAPITULIERT!»
    Zwischen der Vitrine und dem Aufzug befand sich der Empfangstresen mit der Telefonzentrale. Raff bat die junge Frau dort um ein Gespräch mit Mr. Bill Robbins. Umgehend wurde er mit dem Umweltreporter und Naturwissenschaftsautor verbunden. Kaum hatte der Journalist seinen Namen genannt, erklärte Raff in dem Tonfall, mit dem gewöhnlich Unfallzeugen die Polizei anrufen, er komme aus Clayville, sei Student an der Florida State University und habe ein ernstes Umweltproblem, über das er mit ihm sprechen wolle.
    Fünf Minuten später betrat Robbins die Lobby. Er bat Raff in den Aufzug und brachte ihn in die Redaktionsetage. Raff saß gegenüber von Robbins’ Schreibtisch und musterte den Journalisten, dessen Artikel er las, seit er inder Highschool war. Robbins entsprach ungefähr seinen Erwartungen: mittlere Größe und Statur, wahrscheinlich Ende dreißig, mit kurzem Bart à la Lincoln und ordentlich gekämmtem dunkelblondem Haar. Er trug Chinos und ein graubraunes Outdoor-Hemd mit zwei Brusttaschen; eine davon hatte unten einen Tintenfleck von einem ausgelaufenen Kugelschreiber. Er trug keine Krawatte. Das war gut so. Eine Krawatte hätte Raff deutlich

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