Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
»tot ist er nicht, und ganz sicher besteht auch keine Gefahr, daß er sterben könnte, aber ich weiß nicht, weshalb er nicht aufwacht.«
»Oh, ich ertrage es nicht«, flüsterte Evelyn. »Er ist mein Freund und Vetter, und ich mag ihn sehr gern, und seine Tapferkeit nötigt mir Bewunderung ab. Warum bringe ich Unglück über alle, die mich lieben? Erst Walter, dann Lucas. Muß ich dich auch verlassen, Amelia?«
»Unsinn«, fuhr ich sie an. »Bring mir lieber Riechsalz, das müßte Lucas wieder zu sich bringen.« Und richtig, kaum hatte Evelyn es gebracht und ich es ihm unter die Nase gehalten, als er Evelyns Namen flüsterte.
Sie kniete sofort neben seinem Bett. »Lucas, sprich zu mir, ich höre.«
»Evelyn … so weit weg … Wo bist du … Laß mich nicht im Dunkeln allein. Ohne dich … bin ich verloren … Nimm meine Hand, Evelyn, und halte mich fest.«
»Ja, ja, Lucas. Ich bin ja da.«
So und ähnlich ging es eine ganze Weile weiter, und mir wurde es schon langweilig. Also schob ich die vor Mitleid fast zerfließende Evelyn ein wenig weg und sagte: »So, jetzt kommt er wieder zu sich. Was ist dir lieber – willst du ihm versprechen, ihn zu heiraten, oder soll ich es weiter mit Riechsalz probieren?«
Evelyn wurde rot, Lucas schlug die Augen auf und flüsterte verzückt: »Evelyn!«
»Wie geht es dir, Lucas? Wir hatten solche Angst um dich!«
»Bißchen schwach noch. Aber es war deine Stimme,
Liebling, die mich zurückbrachte. Du hast mir das Leben gerettet. Fortan gehört es dir.«
Evelyn schüttelte den Kopf und entzog ihm ihre Hand.
»Das genügt jetzt«, sagte ich barsch. »An Ihren Träumen bin ich nicht sehr interessiert, Lucas, ich will nur wissen, was geschehen ist. Ich sah, daß Sie taumelten und stürzten, aber ich konnte nicht feststellen, daß die Kreatur tatsächlich etwas geworfen hat.«
»Mich hat auch nichts getroffen«, antwortete Lucas. »Wenigstens nicht körperlich. Oder haben Sie eine Wunde oder Beule gefunden?«
»Nein«, antwortete ich. Evelyn sah seine nackte Brust, errötete und zog sich zurück. »Was fühlten Sie eigentlich?«
»Das kann ich nicht beschreiben … Es war wie ein Blitzstrahl von großer Kraft, dann kam die Schwäche, schließlich die Ohnmacht. Ich wußte, daß ich fiel, doch den Aufschlag spürte ich nicht mehr.«
»Ah, wunderbar«, bemerkte ich sarkastisch. »Jetzt haben wir also eine Mumie, die Blitze schmeißt. Emerson wird sich riesig darüber freuen.«
»Emersons Meinung ist mir …egal«, fauchte Lucas.
Das war kein Ausdruck für einen Lord.
Der Rest der Nacht verlief ruhig. Ich schlief gut, Evelyn vermutlich gar nicht. Als ich aufwachte, stand sie am Fenster und schaute in das erste Morgenrot hinaus. Sie hatte einen dunkelblauen Sergerock und dazu eine Bluse angezogen.
»Ich gehe zum Lager«, erklärte sie. »Du brauchst nicht mitzukommen, Amelia, denn ich bin bald wieder hier. Ich will Mr. Emerson überreden, seinen Bruder herzubringen, und wir segeln dann sofort nach Luxor ab. Wenn sie nicht kommen wollen – ich denke, wir sollten dann trotzdem weiterreisen. Ich weiß zwar, daß dich … die Archäologie sehr interessiert, und du wirst lieber bleiben wollen. Lucas wird aber mitkommen, wenn ich ihn darum bitte. Ich werde dann allein reisen, wenn du noch bleiben willst.«
Sie tat mir furchtbar leid, weil sie sich jetzt vor die Wahl gestellt fühlte – Lucas oder Walter. Ich mußte also sehr vorsichtig mit ihr sein.
»Aber ohne Frühstück wirst du doch nicht gehen wollen«, erwiderte ich und schwang die Beine aus dem Bett. »Mitten in der Wüste vor Hunger ohnmächtig werden – nein, nein, das wäre unangenehm.«
Evelyn erklärte sich also bereit, am Frühstück teilzunehmen. Der junge Habib, unser Diener, lächelte jetzt nicht mehr, und das sonst so fröhliche Geplapper vom unteren Deck war auch nicht zu vernehmen. Unsere ganze Mannschaft schien völlig verstört zu sein.
Lucas kam, als wir unseren Tee tranken. Ihm gehe es ausgezeichnet, erklärte er, als ich ihn fragte. Evelyn erzählte ihm sofort, was sie vorhatte, und er zog mißbilligend die Brauen hoch, aber ich versetzte ihm unter dem Tisch einen warnenden Tritt ans Schienbein, den er verstand.
»Ich sagte dir ja, Evelyn, dein Wunsch sei mir Befehl, und wenn du abreisen willst, sollst du das auch tun. Eine kleine Einschränkung habe ich jedoch zu machen, Du kannst mich um mein Leben bitten, nicht aber um meine Ehre als Mann und Engländer. Du kannst nicht verlangen, daß ich
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