Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx
Laune! Wir sollten ihn nicht zu ernst nehmen, meine Liebe. Ich habe eine großartige Aufgabe für Sie: Wir werden das Innere der Pyramide auskundschaften!«
Statt die von mir erwartete Begeisterung an den Tag zu legen, zog das Mädchen ein langes Gesicht. »Aber Ramses hat doch gesagt …«
»Mein liebes Mädchen, damit wollen Sie doch hoffentlich nicht zum Ausdruck bringen, daß Sie einem Kind so viel archäologische Erfahrung zutrauen wie mir? Vielleicht befinden sich dort viele wichtige Hinweise, die Ramses einfach übersehen hat.«
Ich ließ die Männer den Schutt beiseite räumen und die Öffnung vergrößern. Eine nähere Überprüfung der Decke über dem abfallenden Stollen überzeugte mich davon, daß die Gefahr eines weiteren Einsturzes lediglich in dem Teil bestand, der sich unmittelbar an das bereits eingebrochene Stück anschloß. Dort wurden einige kräftige Stützpfeiler angebracht, das Geröll wurde beseitigt, und ich genoß das erhebende Gefühl, als erste ins Innere vorzudringen. Wir schreckten die übliche Schar von Fledermäusen auf, und der Anblick dieser harmlosen Geschöpfe, die schreiend und flatternd das Weite suchten, hatte verheerende Auswirkung auf Enids Gemütsverfassung. Sie weigerte sich strikt, auch nur einen Schritt weiterzugehen, so daß ich meinen Erkundungsgang allein fortsetzte.
Am Ende einer Reihe von Gängen und Nischen befand sich ein kleiner Raum von ungefähr zweieinhalb Quadratmetern mit einem schön geschwungenen Deckenfries. Ansonsten war er vollkommen leer. Eine kurze Untersuchung des Gerölls auf dem Boden enthüllte ebenfalls nichts Aufsehenerregendes, und nachdem ich Selim dort gelassen hatte, um den Staub durchzusieben, damit auch wirklich nichts übersehen wurde, kehrte ich, meine Enttäuschung heldenhaft verbergend, ans Tageslicht zurück.
Enid saß draußen auf einem der Steinquader neben der Pyramidenöffnung. Mit vom Wind zerzaustem Haar, das Kinn auf ihre beiden Hände gestützt, beobachtete sie, wie die anderen sich zur Vormittagspause versammelten. Ich deutete ihr gegenüber an, daß ich mich zu ihnen gesellen wollte, und als wir gemeinsam die stufenförmigen Quader hinabstiegen, bemerkte ich: »Sie wissen, daß es so nicht weitergehen kann. Sie können ihn nicht ewig wie einen Aussätzigen behandeln.«
»Das kann ich und das werde ich auch tun«, erwiderte Enid aufgebracht. »Solange er nicht vernünftig wird und die Wahrheit zugibt.«
»Er hat bereits eine solch verblüffende Vielzahl an Sünden eingestanden, daß ich mir nicht vorstellen kann, was er noch verbergen sollte«, erwiderte ich. »Es sei denn, Sie halten ihn für den Mörder.«
»Sie verstehen mich falsch.« Wir waren am Fuß der Pyramide angelangt, und sie wandte mir ihr Gesicht zu. »Es war Ronald«, brach es aus ihr hervor. »Nicht Donald. Er hat Ronalds Vergehen auf sich genommen, wie er es immer schon getan hat.«
»Und verlor deshalb seinen militärischen Rang, seine Ehre und sein Vermögen? Kommen Sie, Enid, ich kann nicht glauben, daß ein Mann – selbst ein Mann – so töricht sein könnte. Edelmut und Selbstaufopferung sind die höchsten Tugenden der Menschheit, aber im Übermaß grenzen sie eher an Dummheit.«
»Ich stimme Ihnen voll und ganz zu«, sagte Enid mit einem bitteren Lächeln. »Aber Sie kennen Donald nicht. Weltfremd ist gar kein Ausdruck für ihn. Ronald war immer der Liebling seiner Mutter – der jüngere und kleinere und schwächere der beiden.«
»Das Nesthäkchen«, sagte ich gedankenverloren.
»Wie bitte?«
»Ach nur so ein Ausdruck, aber ein recht zutreffender. Ich habe schon häufig erlebt, daß Mütter zum Leidwesen ihrer anderen Sprößlinge ein schwächeres Kind verwöhnten. Schwäche bringt unsere guten Seiten zum Vorschein, Enid, und ich muß sagen …«
»Ich bezweifle ja gar nicht, daß das theoretisch betrachtet ein edler Charakterzug ist. Aber in diesem Fall wurde den beiden Brüdern erheblicher Schaden zugefügt. Ronald machte nie einen Fehler, er wurde nie bestraft. Statt sich gegen dieses ungerechte Verhalten aufzulehnen, versuchte Donald, die Zuneigung seiner Mutter dadurch zu gewinnen, daß er sich zu Ronalds Beschützer und Prügelknaben abstempeln ließ. Wenn Ronald irgend etwas angestellt hatte, schob er es auf Donald, und der ertrug die Bestrafung. Wenn Ronald einen hünenhaften Schläger provozierte, steckte Donald die Prügel ein. Die letzten Worte ihrer Mutter an Donald waren >Liebe und beschütze immer deinen Bruder<. Und genau
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