Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
ihrem schwarzen Kleid mit gestärkter Schürze und adretter Haube gab sie ein hübsches, junges Hausmädchen ab, aber ich fragte mich, wie ich trotz ihres veränderten Aussehens nur so begriffsstutzig hatte sein können. Vermutlich war es eher der veränderte Gesichtsausdruck – gesenkte Lider, zusammengepreßte Lippen, die verkniffene Kinnpartie – als ihr Äußeres, und mir wurde bewußt, wie unendlich tief doch die Kluft der sozialen Unterschiede innerhalb unserer Gesellschaft ist.
Nach einer Weile hob sie den Kopf und straffte ihre Schultern. Sie versuchte, beschämt zu wirken, dennoch bemerkte ich das durchtriebene Funkeln in ihren Augen und das energisch vorgeschobene Kinn. »Ich bin froh, daß Sie mich entlarvt haben«, gestand sie. »Sie können sich nicht vorstellen, wie frustrierend das Ganze war! Als ich die Stelle angetreten hatte, gab es kein Entrinnen mehr. Ihre Haushälterin – und es wird Sie sicherlich freuen, das zu hören – beobachtet das weibliche Personal mit Argusaugen.«
»Unverschämtes Mädchen!« entfuhr es mir. »Was?! Kein Wort der Entschuldigung oder Reue?«
»Ich entschuldige mich, aber ich kann wirklich nicht sagen, daß ich meine Handlung bereue – abgesehen von der Tatsache, daß meine eigentlichen Fähigkeiten brachlagen. Ich hatte keine freie Minute; statt Artikel zu verfassen und dafür zu sorgen, daß diese unter meinem Namen erschienen, mußte ich mit allen Mitteln Informationen sammeln und anderen die Lorbeeren überlassen.«
»Verstehe. Dann war es also kein Zufall, daß die Polizei die Opiumhöhle aushob, während der Professor und ich dort waren, und daß die Presse im Vorfeld darüber unterrichtet war.«
»Das war mein größter Erfolg«, erwiderte die schamlose Person voller Stolz. »Wir wollten gerade im Dienstbotentrakt das Abendessen einnehmen, als Gargery hereinplatzte und in seiner Erregung von Ihrem beabsichtigten Besuch in der Opiumhöhle erzählte. Ich tat so, als habe ich Kopfschmerzen, und bat darum, einen Augenblick an die frische Luft gehen zu dürfen. Natürlich hoffte ich, daß ich jemanden fand, der die von mir an meinen Verleger gerichtete Notiz mitnahm. Ein kleiner zerlumpter Junge lungerte draußen herum, und ich gab ihm Geld, damit er meine Mitteilung weiterleitete. Aber es gab noch eine ganze Reihe von anderen Dingen, auf die ich nicht reagieren konnte.«
Ich versuchte mich zu erinnern, worüber Emerson und ich in ihrem Beisein diskutiert hatten; doch erneut stand mir die unsägliche Gewohnheit, Dienstboten wie Möbelstücke zu betrachten, im Weg. Ich hatte ihr kaum Beachtung beigemessen … Eine Sache jedenfalls lag klar auf der Hand, und falls ich zum Erröten geneigt hätte, was natürlich nicht der Fall war, hätte ich es in diesem Augenblick getan.
»Ich weiß nicht, was Emerson dazu sagen wird«, murmelte ich.
Miss Mintons triumphierendes Lächeln verschwand. Sie rang ihre Hände. »Oh, müssen Sie es dem Professor denn wirklich erzählen?«
»Ich sehe keine Veranlassung, das nicht zu tun. Die Ehe, Miss Minton, setzt offenes und absolut ehrliches Verhalten zwischen … Aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Diskussion. Ich muß sagen, ich bin verärgert, daß Ihnen seine Meinung mehr bedeutet als meine. Emerson übt diese Wirkung auf leicht zu beeindruckende Frauen aus, er kann nichts dafür … Manchmal kann er nichts dafür.«
»Sie verstehen das nicht.« Die zarte Röte ihrer Wangen wurde intensiver, trotzdem hielt sie meinem Blick stand. »Wenn man den Gesprächen zwischen Ihnen lauscht, das Privileg hat, den Austausch zweier so harmonisch verbundener Menschen zu erleben, wenn auch nicht genau zu verstehen … Mrs. Emerson, Sie haben mir ganz neue Perspektiven eröffnet, wie ein Mann sein kann – was eine Frau von ihm erwarten sollte. Sein Humor, seine Freundlichkeit, seine Energie und die fürsorgliche Zärtlichkeit …«
Es erleichterte mich zu erfahren, daß sie den Austausch zweier solcher Menschen nicht genau verstanden hatte. Der Herr denkt, er befehligt den Diener, doch der Diener weiß – mehr als er sollte. Allerdings legte sich meine berechtigte Verärgerung, während ich ihr zuhörte, und als ihre Stimme unsicher wurde und abbrach, überkam mich eine tiefempfundene, fast unwillige Sympathie. Jetzt war mir klar, warum sie geblieben war, nachdem ihr Schuß nach hinten losgegangen war. Von allen Frauen konnte ich schließlich am besten nachvollziehen, welche Faszination Emerson auf eine
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