Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
hatte, verschwand die Hand; das leise Rascheln, unhörbar für jeden, der nicht die Ohren gespitzt hätte, verstummte, als der Kurier denselben Weg nahm, den er gekommen war, indem er wie ein Reptil über den Erdboden kroch.
Ayesha hatte gesagt, daß ich ihren Kurier erkennen würde. Es war kaum wahrscheinlich, daß irgendein anderer einen Brief auf so merkwürdige Weise überbracht hätte.
Gargery war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ich war mir sicher, daß er ansonsten geschrien hätte oder mir zu Hilfe geeilt wäre. Ich versteckte den Brief in meiner Rocktasche, eilte zurück ins Haus und dann in die Bibliothek.
Das Blatt war zweimal gefaltet, aber nicht versiegelt. Die Außenseite des Papiers war nicht beschrieben. Auf der Innenseite befand sich eine einzige Zeile mit bizarren Symbolen.
Meine Augen brauchten ungewohnt lange, um sich darauf zu konzentrieren. Die Symbole waren, wie nicht anders zu erwarten, Hieroglyphen, doch die einzelnen Zeichen wirkten so ungeschickt zu Papier gebracht, als habe sie jemand geschrieben, dem die anmutige, altägyptische Bilderschrift nur oberflächlich vertraut war; und die Orthographie – wenn ich diesen Begriff auf eine Sprache anwenden darf, die eigentlich kein Alphabet kennt – war entsetzlich. Ich rätselte eine ganze Weile herum, bevor ich sie entziffert hatte. Der Obelisk war unmißverständlich – es gab nur einen in London –, aber kein Ägypter hätte den Ausdruck »die Mitte der Nacht« angewandt, wenn er, wie ich annahm, Mitternacht meinte. Es gab nur noch eine weitere Gruppe von Zeichen – die marschierenden Beine, die für Verben der Bewegung standen, sowie einen einzelnen Strich.
»Komme allein?« Eine andere Bedeutung konnte ich mir nicht vorstellen. So lautete die übliche Floskel in allen anonymen Mitteilungen, insbesondere dann, wenn man jemanden in eine Falle zu locken versuchte. Eine Verabredung um Mitternacht am Flußufer, von einer Frau initiiert, die keine Veranlassung hatte, mich zu mögen, und allen Grund für das Gegenteil, war vielleicht eine solche Falle.
Ich beschloß, um halb zwölf zu diesem Rendezvous einzutreffen. Wenn man einen Hinterhalt vermutet, ist es strategisch vorteilhaft, früh genug auf der Bildfläche zu erscheinen.
Es gibt nur wenige Gelegenheiten in meinem langen und (ich schätze mich glücklich, das sagen zu dürfen) abenteuerlichen Leben, an die ich mich mit größerem Unbehagen erinnere als an jenen Frühlingsabend in London. Ahnungen und Befürchtungen keimten in mir auf, während die Stunden unendlich langsam verstrichen. Ich speiste allein zu Abend – obwohl der Gebrauch dieses Verbs irreführend ist, denn Gargery, der beinahe ebenso erregt war wie ich, servierte die Gänge so überstürzt, daß ich selbst dann nichts hätte essen können, wenn ich Appetit gehabt hätte, der mir freilich vergangen war. Als ich durch die Eingangshalle in Richtung Treppe schritt, bemerkte ich ihn auf seinem Posten neben dem Fenster. Er hatte die Vorhänge zu einem Bündel zurückgezogen und umklammerte sie wie einen rettenden Anker, doch ich brachte es nicht übers Herz, mich zu beschweren.
Es fällt mir schwer, die wilden Theorien zu Papier zu bringen, die meinen Verstand torpedierten. Für Augenblicke war ich überzeugt, daß die Verabredung nur eine Falle sein konnte, der ich irgendwie entkommen mußte. Im nächsten Augenblick entschied ich, daß Ayesha schließlich doch das zwischen uns bestehende Band erkannt hatte – die gegenseitige Sympathie zweier unterdrückter Frauen – und mir die gewünschte Information mitteilen wollte. Es gab noch eine dritte Möglichkeit – daß sie Emerson zu sich gelockt hatte, ihn um Hilfe gebeten oder ihm ein Angebot … irgendein Angebot gemacht hatte und daß er gegen seinen Willen festgehalten wurde. Wenn das der Fall sein sollte, dann diente das Zusammentreffen der Forderung nach Lösegeld. Ich hoffte inständig, daß es so wäre!
Die Zeit verstrich so langsam, daß es mir wie eine Ewigkeit vorkam, doch schließlich unterbrach ein Klopfen an der Tür meine Überlegungen.
»Wer ist da?« rief ich.
»Ich bin es, Mama. Darf ich eintreten?«
Mir fiel ein, daß ich ihm eine gute Nacht hätte wünschen sollen, um mich zu vergewissern, daß er dort war, wo er hingehörte. »Ja, Ramses, tritt ein.« Dann fügte ich hinzu: »Ich wollte gerade zu dir gehen. Bislang habe ich noch nichts von deinem Papa gehört, aber das beunruhigt mich eigentlich nicht.«
Vorsichtig schloß Ramses die Tür
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