Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Rückkehr zu warten. Aber was war, wenn er nicht heimkehrte? Wenn sich die Stunden langsam hinzogen und ich nichts von ihm erfuhr? Da ich mich selbst gut einzuschätzen wußte, war mir klar, daß ich nicht lange untätig würde herumsitzen können.
Ich beschloß, mich darum zu kümmern, wenn es an der Zeit war. In der Zwischenzeit mußte ich mich um die beiden jungen Männer kümmern. Ich hatte versprochen, daß ich ihre Besorgnis zerstreuen würde, und Amelia P. Emerson hält stets Wort, selbst wenn ihr Herz an etwas anderem hängt.
Gargery spähte in der Eingangshalle aus dem Fenster. »Es ist noch zu früh für seine Rückkehr«, bemerkte ich mit einer Mischung aus Verärgerung und Mitgefühl. »Er ist kaum eine Stunde aus dem Haus. Öffnen Sie mir bitte die Tür, Gargery.«
Widerwillig fügte er sich meiner Anordnung. »Madam, nun verschwinden Sie nicht auch noch. Der Professor würde es mir niemals verzeihen –«
»Ich gehe lediglich über die Straße.« Denn dort waren sie, genau, wie ich erwartet hatte; O’Connell schlenderte ziellos auf und ab, Mr. Wilson jedoch fixierte bewegungslos das Haus.
»Bitte, Madam, tun Sie es nicht –«
Ich tätschelte seinen Arm. »Sie können in der Tür stehenbleiben und mich die ganze Zeit beobachten, Gargery. Ich möchte lediglich einige Worte mit diesen Herren wechseln; ich bin gleich zurück.«
Es war nicht erforderlich, daß ich die Straße überquerte. Sobald ich auftauchte, eilten die beiden zum Tor, wo unsere Unterhaltung dann auch stattfand.
»Meine Vermutung erwies sich als richtig«, informierte ich die beiden. »Miss Minton war und ist in Sicherheit.«
»Habe ich Ihr Wort darauf, Mrs. E.?« fragte Kevin.
»Mein Ehrenwort. Habe ich Sie jemals belogen, Mr. O’Connell?«
Ein kleines Lächeln umspielte die Mundwinkel des jungen Mannes. »Nun … ich werde Ihnen diesmal glauben.«
»Aber wo ist sie?« drängte Wilson. »Ich muß mit ihr sprechen, mir Klarheit verschaffen –«
»Es erstaunt mich, Sie so aufgebracht zu sehen, Mr. Wilson.«
Denn das war er tatsächlich; sein Hut saß schief, und er schien keinen Gedanken auf seine eleganten, grauen Handschuhe zu verschwenden, die die rostigen Eisenstäbe umklammerten.
»Verzeihen Sie«, murmelte Wilson. »Ich zweifle nicht an Ihren Worten, Mrs. Emerson –«
»Das sollten Sie auch nicht tun. Miss Minton wird morgen in ihre Wohnung zurückkehren; dann können Sie sie aufsuchen. Gehen Sie jetzt nach Hause, und schlafen Sie beruhigt in dem Wissen ein, daß sie nicht in Gefahr ist.«
Die Hände in den Taschen vergraben, die Schultern eingezogen, hatte sich O’Connell bereits abgewandt. »Setzen Sie Ihre Kappe auf, Mr. O’Connell!« rief ich. »Die Abendluft ist feucht.«
Er nahm meinen Rat mit einem Winken seiner Hand auf, blieb aber nicht stehen – und befolgte ihn auch nicht, zumindest nicht, solange er in Sichtweite war. Mr. Wilson verharrte, um mir zu danken und sich wiederholt zu entschuldigen. Ich unterbrach seinen Ausbruch und forderte ihn zum Gehen auf.
Statt umgehend ins Haus zurückzukehren, blieb ich am Tor stehen. Die Abendluft war feucht und von dem Geruch brennender Kohle durchsetzt, trotzdem bin ich sicher, daß ich den werten Lesern nicht zu erläutern brauche, weshalb ich im Freien verharrte. Falls einer von Ihnen noch nie an einem Fenster oder an einer Tür gestanden und mit angehaltenem Atem auf einen heimkehrenden Wanderer gewartet hat – wessen Herz nicht bei jedem einbiegenden Fahrzeug oder den Passanten, deren Silhouette auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit dem Ausbleiber hatte, höher schlug – wer nicht den qualvollen Schmerz der Enttäuschung kennt, wenn das Fahrzeug weiterfährt und die Gestalt eine andere ist –, diesen Menschen kann ich nur herzlich zu seiner Gemütsruhe beglückwünschen.
Gargery stand auf der Türschwelle und spähte genauso intensiv wie ich. Die Bemühung war vergeblich, und das wußte ich sehr wohl; nach einer Weile drehte ich mich seufzend um.
Die Büsche neben dem Tor, die mittlerweile in vollem Laub standen, schwankten wie von einem plötzlichen Windstoß berührt. Aber es war windstill. Die Blätter an den gegenüberliegenden Büschen bewegten sich nicht. Etwas, was man für eine überdimensionale schneeweiße Spinne hätte halten können, schnellte aus dem Gebüsch hervor. Es war keine Spinne; es war eine leichenblasse, zum Skelett abgemagerte Hand. Und sie hielt ein Stück Papier umschlossen.
Sobald ich das Papier an mich genommen
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