Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Minute wandte ich mich noch einmal meinem Schreibtisch zu und entnahm ihm ein weiteres Bekleidungsstück. Emerson macht sich ständig lustig über meinen Werkzeuggürtel, auch wenn die daran befestigten Utensilien uns schon mehr als einmal vor einem grausamen Tod bewahrt hatten. Streichhölzer in einer wasserdichten Schachtel, eine kleine Flasche Trinkwasser, Notizbuch und Bleistift, Schere, Messer – diese Beispiele dürften als Erklärung ausreichen, warum mein Gürtel eine unverzichtbare Hilfe in allen Lebenslagen und Landschaften darstellte, einschließlich gewisser Stadtteile Londons. Der Gürtel selbst bestand aus festem Leder, war fünf Zentimeter breit und hatte mir in einer unvergeßlichen Situation einen hervorragenden Dienst erwiesen – nämlich eine gefährlichere Bedrohung als den Tod abzuwehren (für einen kurzen, aber entscheidenden Augenblick).
Nur Gargery, der Butler, bemerkte, daß ich das Haus verließ. Er war während meines letzten Englandaufenthalts eingestellt worden und in seiner Position unerfahren: ein aschblonder, jüngerer Mann von mittelgroßer Statur mit gutmütigem Gesichtsausdruck, dem es immer noch nicht recht gelang, die seiner Stellung angemessene Würde auszustrahlen. Er starrte auf meinen Gürtel und die klirrenden Utensilien, als hätte er etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen (vermutlich hatte er das tatsächlich nicht).
Der St. James’s Square befindet sich unweit der Pall Mall und dem geschäftigen Treiben auf der Regent Street; doch an diesem bedrückenden Frühlingsnachmittag hätte er auch tausend Kilometer von der Hauptstadt entfernt sein können. Der Nebel schien das Klappern der Wagenräder und Pferdehufe zu dämpfen und verlieh den knospenden Bäumen rings um den Platz eine gespenstische Aura.
Der von O’Connell angedeuteten Richtung folgend, bog ich in die York Street ein und dann in die erste Straße rechts. Ich hoffte, daß ich den richtigen Weg nahm, und wünschte mir nur, er hätte sich nicht so verflucht vage und theatralisch verhalten. Seine Geste mit dem imaginären Trinkgefäß warf die Frage auf, ob er damit ein Restaurant, ein Teehaus oder ein Café gemeint hatte; mir blieb nichts anderes übrig, als so lange weiterzumarschieren, bis ich ein Etablissement fand, in dem Getränke ausgeschenkt wurden, oder bis ich O’Connell persönlich entdeckte.
Kurze Zeit später befand ich mich in einem Viertel, das nichts mit der herrschaftlichen Umgebung des St. James’s Square gemein hatte. Es war ehrbar, das nehme ich jedenfalls an, doch die Häuser wirkten beengt und die vorübereilenden Passanten ärmlich und verhärmt. Augenscheinlich waren Regenschirme hier Mangelware; ich hielt meinen hoch und spähte auf der Suche nach einem mir vertrauten Gesicht neugierig von einer Straßenseite zur anderen.
Als erstes fiel mir weder sein Gesicht noch seine Statur ins Auge, statt dessen jedoch sein tizianroter Haarschopf, den selbst der Londoner Nebel nicht verhüllen konnte. Er stand im Eingang eines Etablissements mit dem außergewöhnlichen Namen »Zum Wilden Mann« und beobachtete die Straße; als er mich erkannte, verzog sich sein sommersprossiges Gesicht zu einem breiten Grinsen, und er winkte mit seiner Kappe.
Ich schloß meinen Schirm und gesellte mich zu ihm. Mit einem argwöhnischen Blick auf den Regenschirm hub er an: »Zweifelsohne sind Sie ein Lichtblick an diesem trüben Tag, Mrs. Emerson. Und in der Tat muß sich der Quell der Jugend in Ägypten befinden, denn Sie werden mit jedem Mal jünger und schöner –«
Ich drohte ihm mit meinem Schirm. »Ersparen Sie mir Ihren irischen Akzent und die leeren Komplimente, Mr. O’Connell. Sie haben mich ernsthaft verärgert.«
»Leere Komplimente? Zweifelsohne sprach ich aus den tiefsten Tiefen meiner … Bitte, Ma’am, wollen Sie nicht diesen bedrohlichen Schirm öffnen und mich an einen Ort begleiten, wo wir reden können?«
»Das hier ist genau das richtige«, sagte ich und deutete auf die Eingangstür.
O’Connell riß die Augen auf. »Meine liebe Mrs. Emerson, das ist wohl kaum –«
»Das ist ein Wirtshaus, nicht wahr? Überaus interessant. Ich habe noch nie ein solches Etablissement besucht. Obwohl Emerson normalerweise der fürsorglichste aller Männer ist, hat er sich stets geweigert, eins mit mir aufzusuchen. Kommen Sie, Mr. O’Connell; ich stehe extrem unter Zeitdruck und habe Ihnen eine Menge zu sagen.«
»Zweifelsohne entspricht das der Wahrheit«, seufzte O’Connell und folgte mir ins
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