Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
hatte, sondern uns statt dessen vom Hafen aus gefolgt war und sich wie ein taubstummer Irrer verhielt, konnte ich mir einfach nicht erklären. Vermutlich – so spekulierte ich – befürchtete er, daß Emerson einen solchen Brief an sich genommen oder Fragen gestellt hätte. Nun, ich war ebensowenig erpicht auf eine Mitwisserschaft Emersons wie er, aber ich war erpicht auf ein Gespräch mit Mr. O’Connell. Ich hatte ihm noch einiges zu sagen.
Da er vier Uhr symbolisiert hatte, blieb mir noch etwas Zeit bis zu unserer Verabredung, die ich nutzte, indem ich die Zeitungen der vergangenen Woche durchblätterte. Man hatte diese bereits weggeräumt, doch auf meinen Wunsch hin holte sie einer der Diener und brachte sie mir aufs Zimmer.
Als ich meine Lektüre beendete, hatte sich meine von Belustigung geprägte Nachsicht mit Mr. O’Connell völlig gelegt. Seine dreiste und ungerechtfertigte Behauptung, daß wir der Aufklärung eines fiktiven Kriminalfalles zugestimmt hätten, war schon schlimm genug. Seine neuerlichen Verweise auf uns waren schlichtweg der Gipfel.
Da das sogenannte Geheimnis eigentlich gar kein Geheimnis, sondern eher eine Verkettung bedeutungsloser Zufälle darstellte, wäre die ganze Geschichte eines natürlichen Todes gestorben, wenn nicht O’Connell und seine Konsorten von der Presse diese mit diversen zweifelhaften Strategien am Leben erhalten hätten. Besonders hilfreich in diesem Zusammenhang waren ihnen die Aktivitäten gewisser, nicht zurechnungsfähiger Zeitgenossen, unter ihnen auch der bereits in einem früheren Artikel erwähnte Seth-Priester. Dieses Individuum hatte sich als regelmäßiger Besucher der Ausstellung entpuppt, der sich in fließenden weißen Gewändern und mit mottenzerfressenem Leopardenfell zur Schau stellte und geheimnisvolle Rituale vollführte, die, so würde man vermuten, der Versöhnung der Mumie galten.
Emerson und ich waren Mr. O’Connell bevorzugte Opfer. Ich fand mehrere Artikel über unsere früheren Aktivitäten, einschließlich einer Abbildung von Emerson, bei deren Entdeckung dieser mit Sicherheit nicht vor einem Mord zurückgeschreckt hätte. Der Künstler hatte einen Vorfall zu Papier gebracht, der sich im Sommer zuvor auf den Treppenstufen des Britischen Museums abgespielt hatte. Emerson hatte lediglich mit seiner Faust unter Mr. Budges Nase herumgefuchtelt, aber nicht zugeschlagen; die Zeichnung jedoch hätte als Aufhänger zu einer Sensationsgeschichte dienen können – »Nimm das, du dreckiges Schwein!« Budges hervortretende Augen und das eiskalte Entsetzen in seinen Zügen waren überaus stimmungsvoll porträtiert. (Die Auseinandersetzung, bei der es sich lediglich um einen Sturm im Wasserglas gehandelt hatte, war entstanden, nachdem sich Mr. Budge erdreistet hatte, einen Leserbrief an die Times zu verfassen, in dem er Emersons harsche Kritik an einer Ausstellung ägyptischer Töpfereien widerlegte. Im Verlauf seines Schreibens hatte er sich einer Sprache bedient, die kein Ehrenmann anwenden sollte.)
In seinem journalistischen Sensationswahn hatte Mr. O’Connell nicht einmal soviel Skrupel besessen, ein unschuldiges Kind zu verschonen. Die Absätze, in denen er Ramses erwähnte, waren absolut geschmacklos. Es bestand kein Grund zur Erwähnung der Tatsache, daß Ramses von gewissen Ägyptern (den naivsten und abergläubischsten) als eine Art jugendlicher Dschinn, ein Dämon in Kindergestalt, angesehen wurde. O’Connells Behauptung, daß nur nachlässige, gedankenlose Eltern einen so kleinen und »zarten« Jungen (seine Formulierung, nicht meine) dem ungesunden Klima und den unzähligen Gefahren einer archäologischen Exkavation aussetzen würden, verletzte mich ebenfalls tief. Im Vergleich zu London ist Ägypten ein wahrer Erholungsort, und ich hatte wirklich alles in meiner weiblichen Macht Stehende getan, um Ramses von der Erkundung verlassener Pyramiden abzuhalten und ihn davor zu schützen, daß er weder bei lebendigem Leibe von einer Sandwehe begraben noch von irgendwelchen Meisterverbrechern entführt wurde.
Als ich mich auf das Zusammentreffen vorbereitete, war meine Gesinnung von daher beinahe ebenso mörderisch wie die Emersons. Selbstverständlich beabsichtigte ich, meinen Schirm mitzunehmen. Ob in London oder Ägypten, ich gehe nie ohne ihn aus. Er ist der nützlichste Gegenstand, den man sich vorstellen kann, und dient nicht nur zum Schutz gegen Sonne oder Regen, sondern in Notsituationen auch als Verteidigungswaffe. In letzter
Weitere Kostenlose Bücher