Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
ich eine Schlange in meinem Hause genährt habe, aber eine weitere an meiner Brust …«
»O Emerson, sei nicht so dramatisch. Falls Ramses die Kühnheit besaß, dein Manuskript durchzusehen –«
»Durchzusehen? Der kleine Halunke hat es praktisch umgeschrieben! Er hat meine Daten korrigiert, meine Analysen historischer Ereignisse, meinen Standpunkt hinsichtlich der Anfänge der Mumifikation!«
»Und deine Syntax«, bemerkte ich, unfähig, ein Schmunzeln zu unterdrücken. »In der Tat, Ramses’ Verständnis der englischen Grammatik ist recht exzentrisch.« Als ich bemerkte, daß Emerson puterrot angelaufen war, verkniff ich mir das Schmunzeln und erklärte in ernstem Ton: »Das ist wirklich ungehörig von Ramses, mein Lieber. Ich werde ein deutliches Wort mit ihm reden.«
»Das erscheint mir keine angemessene Strafe für sein Verbrechen.«
»Du … du hast ihn doch nicht etwa geschlagen, Emerson?«
Emerson bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. »Du kennst meine Einstellung zu körperlicher Züchtigung, Amelia. Noch nie habe ich ein Kind oder eine Frau geschlagen – und werde es auch nie tun. Obwohl ich heute abend gefährlich nahe daran war.«
Hinsichtlich der Prügelstrafe vertraten Emerson und ich die gleiche Meinung, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven; seine waren ethisch und idealistisch geprägt, meine hingegen rein praktischer Natur. Eine Tracht Prügel hätte mir mehr weh getan als Ramses, der über extrem spitze Knochen und eine hohe Schmerztoleranz verfügte.
Ich empfand Mitgefühl für meinen armen Emerson. Alles in allem hatte er einen schlimmen Tag erlebt, und der Anblick meines Bruders James, der in voller Abendgarderobe noch feister wirkte, trug nicht zur Verbesserung seiner Stimmung bei. James schien eifrig darauf bedacht zu gefallen; er lachte lauthals über Emersons Bemerkungen, selbst wenn diese teilweise nicht witzig gemeint waren, und überschüttete mich mit Komplimenten hinsichtlich meines Kleides, meines Aussehens und meiner Mutterqualitäten. Im Verlauf des Abendessens dämmerten mir seine wahren Beweggründe, doch die Vorstellung schien so abwegig, daß ich sie kaum glauben konnte.
Erst nach dem Abendessen kam er auf den Punkt. Er schien darauf zu warten, daß die Damen sich zurückzogen, bis sich Evelyn schließlich zu einer Erklärung verpflichtet fühlte. »Mein lieber Mr. Peabody, Amelia glaubt, daß diese Sitte unmodern und für das weibliche Geschlecht kompromittierend ist.«
»Kompromittierend?« James starrte mich an.
»Normalerweise bestreiten die Herren die intelligente Konversation – sofern sie dazu in der Lage sind –, bis es Zeit für ihren Portwein und die Zigarren wird«, sagte ich. »Ich schätze einen guten Tropfen Portwein, intelligente Gespräche, und ich habe nichts gegen das Aroma einer guten Zigarre einzuwenden.«
»Oh«, meinte James und blickte verwirrt.
»Im allgemeinen diskutieren wir über ägyptologische Studien«, fuhr ich fort. »Wenn dich dieses Thema langweilt, James, kannst du dich ja in den Salon zurückziehen.«
Evelyns Blick suggerierte mir, daß ich vielleicht etwas zu weit gegangen war, doch James faßte meine Äußerung als Scherz auf – was sie beileibe nicht war. Unter schallendem Gelächter beugte er sich über den Tisch und tätschelte meine Hand. »Meine liebe Amelia. Du hast dich seit deiner Kindheit nicht verändert. Erinnerst du dich noch an die Zeit …«
Er stockte, weil ihm vermutlich keine schöne Erinnerung aus unserer Kindheit einfiel. Ich jedenfalls hatte keine, die ihn einschloß. Er ließ diesen Ansatz fallen und versuchte es erneut. »Papa sagte immer, daß du der klügste Kopf aus der Truppe seist. Und er hatte recht. – Reich mir doch bitte den Portwein, Walter, mein Junge. – Und du hast das Beste daraus gemacht, was?«
»Ich verfüge über einen hervorragenden Vermögensberater«, erwiderte ich ausweichend.
Emerson hatte ihn mit dem leichten Widerwillen eines Anatomen beobachtet, der auf ein neues und ungesundes Organ gestoßen war; jetzt wandte er sich schulterzuckend an Walter und setzte seine zuvor begonnene Diskussion über einen Berlin-Reiseführer fort. Das kam James sehr gelegen; während er weiterhin dem Portwein zusprach, wandte er sich im vertraulichen Ton an mich.
»Ich wünschte nur, ich hätte deinen gesunden Menschenverstand, Schwesterherz. Nicht, daß es mein Fehler gewesen wäre. Nein. War keineswegs mein Fehler, daß diese verfluchten Schiffe verdammt nicht seetauglich waren.
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