Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
in den Anfängen des 18. Jahrhunderts erbaute Chalfont House gehört zu den ältesten Anwesen auf dem Square. Allerdings wurde es von Evelyns Großvater – in dem (vergeblichen) Bemühen, mit den Rothschilds mithalten zu können – um 1860 komplett renoviert. Die große Freitreppe besaß eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der im Palazzo Braschi in Rom, der Ballsaal verdankte seine Gestaltung einem Pendant im Schloß von Versailles; die Wände des von einer riesigen Kuppeldecke überspannten Billardzimmers waren mit chinesischer Seide ausgekleidet. Zumindest in einer Hinsicht konnten die späteren Bewohner dem alten Herrn und Mr. Rothschild dankbar sein: Jedes Schlafzimmer verfügte über ein eigenes Bad.
Der Vorschlag, den Nachmittag gemeinsam im Britischen Museum zu verbringen, kam schließlich von Walter. Hätte ich diese Idee geäußert, wäre Emerson mit Sicherheit dagegen gewesen; doch bei Walter reagierte er lediglich mit einem gutmütigen Brummen.
»Ich gehe nicht davon aus, daß du vorhast, uns mit einem Besuch bei besagter Mumie zu malträtieren, Walter. Du weißt, daß wir diese Sensationsgier verabscheuen.«
Walter blickte zu seiner Frau, die entseelt vor sich hin lächelte. »Mein lieber Radcliffe, nichts läge mir ferner. Obwohl ich zugebe, daß ich ziemlich neugierig bin. Mir fehlt deine unterkühlte Zurückhaltung als Wissenschaftler.«
»Pah«, erwiderte Emerson.
»Dort ist ein Papyrus ausgestellt, den ich mir gern anschauen würde«, fuhr Walter fort. »Du weißt, daß ich an einer Übersetzung des Magischen Textes von Leyden arbeite. Einige Konstruktionen erscheinen mir verwirrend; von daher hoffe ich, Parallelen in B.M. 29465 zu finden.«
»Oh, in diesem Fall begleite ich dich natürlich gern«, erwiderte Emerson. »Ich kann meinen Besuch ebensogut ankündigen und mich vergewissern, daß dieser Idiot Budge mein Studierzimmer niemand anderem überlassen hat. Vielleicht kannst du freundlicherweise dafür sorgen, daß mir ein fensterloses Büro mit einem Schreibtisch und einigen Bücherregalen zur Verfügung gestellt wird. Ich nehme nicht an, daß du uns begleiten willst, Peabody.«
»Deine Annahme ist falsch, Emerson. Ich bin neugierig, in welcher Form Mr. Budge unsere dem Museum im letzten Jahr überlassenen Keramiken ausgestellt hat.«
»Wie ich Budge kenne, befinden sich unsere Museumsgaben noch in den Frachtkisten«, brummte Emerson. »Die unsägliche Mißgunst dieses Mannes gegenüber anderen Wissenschaftlern – ich nenne keine Namen, Peabody – ist nicht mehr zu überbieten.«
Auf mein Zureden hin schlug Evelyn die Einladung aus. Ich erklärte ihr, sie solle sich ein wenig ausruhen, womit sie sich zögernd nickend einverstanden erklärte; da ich jedoch ihre übertriebene Fürsorglichkeit im Umgang mit Kindern kenne, stimmte ich Emersons Vorschlag zu, Ramses mitzunehmen. Wenn Ramses erst einmal aus dem Weg war, stiegen die Chancen für Evelyns Entspannung beträchtlich.
Ramses war begeistert. Das schloß ich keineswegs aus seinem Gesichtsausdruck, der so unergründlich wie immer war, sondern aus dem ausschweifenden Monolog, in dem er seine diesbezüglichen Empfindungen zum Ausdruck brachte.
Budge war nicht in seinem Büro. Aufgrund von Emersons Spektakel – Hallo, Budge, wo zum Teufel stecken Sie? und ähnlichen Äußerungen – aufmerksam geworden, tauchte ein junger Mann in einem nahe gelegenen Türeingang auf. Es handelte sich um den wenig begeisterten Begleiter von Miss Minton am Abend zuvor; ich erkannte ihn an seiner goldgerahmten Brille und an der für ihn charakteristischen Unentschlossenheit, da der Nebel, die Dunkelheit und sein weiter Mantel weitere Merkmale verhüllt hatten. Bei Tageslicht entpuppte er sich als schlanker junger Bursche von mittlerer Größe mit langem, schmalem Gesicht und sanften dunklen Augen.
Er begrüßte uns mit einer gewissen Zurückhaltung, die ich seiner jugendlichen Bescheidenheit zuschrieb; allerdings lockte Emerson ihn aus der Reserve, indem er seine Hand schüttelte und eine ironische Bemerkung über unsere letzte Begegnung machte. Der junge Mann errötete sichtlich.
»Ich bitte erneut um Verzeihung, Professor. Es handelte sich um ein überaus unangenehmes –«
»Warum sollten Sie sich entschuldigen? Sie sind doch nicht verantwortlich für Miss Mintons Handlungen. Aber vielleicht wären Sie das gern, was? Eine attraktive junge Dame und sehr – äh – intelligent.«
Wilson errötete bis zu den Haarwurzeln. Er rückte seine Brille
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