Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
im Falle eines Großbrandes zu retten oder wenn einer der Hunde es zu fassen kriegt oder wenn –«
Ich stampfte mit dem Fuß auf. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß Ramses mich häufiger zu dieser absolut kindischen Regung veranlaßte. »Genug, Ramses. Du weißt genau, was ich meine. Du wirst nicht mehr im Manuskript deines Vaters herumkritzeln und es weder mit Anmerkungen versehen noch korrigieren oder in irgendeiner Form verändern.«
»Ah«, entfuhr es Ramses gedankenverloren. »Nachdem du dich jetzt klar ausgedrückt hast, Mama, werde ich dem natürlich Folge leisten.«
»Gut.« Ich wandte mich zum Gehen. Hinter mir sagte eine leise Stimme: »Gibst du mir keinen Gutenachtkuß, Mama?«
Die mit vor der Brust verschränkten Armen und mit bedrohlich zusammengezogenen Brauen unnachgiebig wirkende Gestalt Emersons sackte merklich in sich zusammen. »Möchtest du denn keinen Gutnachtkuß von deinem Papa, mein Junge?«
»Das würde ich über die Maßen schätzen, Papa. Ich wagte nur nicht, darum zu bitten, weil ich glaubte, daß deine Verärgerung – deine überaus berechtigte Verärgerung – zu einer Ablehnung führen könnte, die mich empfindlich getroffen hätte. Obwohl ich davon ausging, daß du die Gabe der Vergebung demonstrieren würdest, die einen edlen Charakter kennzeichnet und die, dem Koran zufolge –«
An diesem Punkt stürzte ich mich auf Ramses und gab ihm den erbetenen Kuß, obwohl ich zugeben muß, daß mich sowohl Zuneigung als auch der Wunsch, seinen Redeschwall zu unterbrechen, dazu veranlaßten. Emerson tat es mir nach; seine Umarmung war überaus liebevoll, und nachdem wir eilig den Raum verlassen hatten – um einem weiteren Monolog unseres Sohnes vorzugreifen –, sagte ich: »Du hast Ramses nichts von den Kindern gesagt.«
»Das hat Zeit bis morgen«, knurrte Emerson, während er die Tür zu unserem Schlafzimmer öffnete und mir den Vortritt ließ. Er blickte ziemlich betreten drein. Damit hatte ich gerechnet; Emerson liebt seinen Sohn Ramses über alles und bereut rüde Worte normalerweise, sobald er sie ausgesprochen hat.
»Vielleicht sollten wir sie doch nicht aufnehmen, Emerson.«
»Ich habe meine Meinung nicht geändert, Peabody. Ramses ist ein herzensguter, kleiner Kerl – auf seine Art. Ich bin sicher, daß er sich wirklich nützlich machen wollte. Vielleicht war ich etwas zu hart mit ihm. Aber er ist … Manchmal ist er … Er verhält sich wirklich etwas merkwürdig, Peabody, findest du nicht? Er hat sich zuviel in der Gesellschaft von Erwachsenen aufgehalten. Es wird ihm guttun, mit ganz normalen Kindern irgendwelche Spiele zu machen. Kricket beispielsweise und – äh – solche Sachen.«
»Hast du schon jemals Kricket gespielt, Emerson?«
»Ich? Um Himmels willen, nein! Kannst du dir vorstellen, daß ICH meine Zeit auf diese vermutlich unlogischste und nutzloseste Aktivität verschwende?«
Unter diesem Aspekt betrachtet, konnte ich das zugegebenermaßen nicht.
4
Bitte denken Sie jetzt nicht, werter Leser, daß ich die interessanten Vorkommnisse des frühen Abends vergessen oder verdrängt hätte, insbesondere das Auftauchen der unheimlichen Erscheinung. Allerdings war ich erst am darauffolgenden Morgen in der Lage, mich mit deren Bedeutung auseinanderzusetzen.
Normalerweise wache ich vor Emerson auf. Manchmal nutze ich die Gelegenheit, um Briefe zu schreiben und Artikel für archäologische Zeitschriften zu verfassen; häufiger jedoch bleibe ich ruhig liegen und plane meine Tagesaktivitäten. Ich wage zu behaupten, daß meine Denkprozesse aufgrund von Emersons schlummernder Gegenwart beflügelt werden; seine lauten Atemgeräusche, die Kraft und Wärme seiner körperlichen Ausstrahlung versichern mir in vieler Hinsicht, daß ich zu den glücklichsten Frauen zähle.
Wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht trügt (was selten der Fall ist), nahmen meine Überlegungen an jenem Morgen folgenden Verlauf.
Die Nachahmung ist in den Annalen des Verbrechens nichts Ungewöhnliches. In der Tat würde ein intelligenter Verbrecher möglicherweise eine Reihe von Morden oder Rauben dahin gehend nutzen, daß er seine eigenen Bemühungen (sozusagen) mit ähnlichen Methoden und ähnlichem Erscheinungsbild verknüpft und damit sein wahres Motiv verschleiert. Die Möglichkeit bestand, daß ein weiterer Verrückter den ursprünglichen Seth-Priester nachahmte, weil sein eigener Einfallsreichtum zu begrenzt für eine individuelle Idee war. Allerdings schien das eher
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